Asylrecht erlaubt keine angemessene medizinische Versorgung
BPtK-Symposium zur Versorgung psychisch kranker Flüchtlinge
Viele der 800.000 Flüchtlinge, die voraussichtlich bis Ende des Jahres 2015 nach Deutschland kommen werden, sind psychisch krank. Studien zeigen, dass es 40 bis 50 Prozent sind. Ihre Versorgung ist mangelhaft. Kaum ein Flüchtling erhält eine psychotherapeutische Behandlung.
Um auf diesen Missstand aufmerksam zu machen und darüber zu diskutieren, wie die Versorgung psychisch kranker Flüchtlinge verbessert werden kann, veranstaltete die BPtK am 24. September in Berlin ein Symposium, zu dem Experten aus Wissenschaft, Praxis und Politik eingeladen waren.
BPtK-Präsident Dr. Dietrich Munz erläuterte in seiner Begrüßung, dass die rechtlichen und verwaltungstechnischen Voraussetzungen in Deutschland völlig ungeeignet seien, um psychisch kranken Flüchtlingen schnell eine notwendige Psychotherapie anbieten zu können: "Das muss dringend geändert werden."
Munz bedauerte, dass die Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration der Bundesregierung, Staatsministerin Aydan Özo?uz, aufgrund kurzfristig anberaumter Beratungen im Vorfeld des heutigen Flüchtlingsgipfels der Bundesregierung verhindert sei und daher die Veranstaltung nicht - wie angekündigt - mit einem persönlichen Grußwort eröffnen könne.
In einem schriftlichen Grußwort betonte Özo?uz jedoch, dass es eine zentrale Aufgabe sei, für die psychische Gesundheit von Flüchtlingen zu sorgen. Flüchtlinge können nur dann vollends in unserer Gesellschaft ankommen, "wenn sie psychisch zur Ruhe kommen". Viele der traumatisierten Flüchtlinge werden "ihr Leben ohne psychotherapeutische Versorgung nur schwer bewältigen können". Es gebe jedoch Reformbedarf bei der Gesundheitsversorgung traumatisierter Flüchtlinge. Dies betreffe vor allem die Finanzierung von Dolmetschern, die bundesweite Einführung der Gesundheitskarte für Flüchtlinge, die Überprüfung der Leistungsbeschränkungen bei den Gesundheitsleistungen für Flüchtlinge und die Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinie.
In seinem Grußwort machte Dr. Ulrich Clever, Menschenrechtsbeauftragter der Bundesärztekammer (BÄK), deutlich, dass es einen klaren medizinischen Auftrag gäbe, alle Menschen gleich zu behandeln, unabhängig davon, woher sie stammen und warum sie Schutz in Deutschland suchen. "Flüchtling ist gleich Flüchtling", stellte Clever klar.
Psychotherapie ist Behandlungsmethode der Wahl
Prof. Dr. Christine Knaevelsrud von der Freien Universität Berlin führte fachlich in das Thema ein. Studien zufolge litten weltweit jeweils etwa 30 Prozent der Flüchtlinge an Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS). In Deutschland seien die Erkrankungsraten teilweise noch höher. Aber nicht nur die traumatischen Erfahrungen in den Heimatländern und auf der Flucht, sondern auch die Lebensbedingungen im Asylland führten dazu, dass Flüchtlinge psychisch erkrankten. Sammelunterkünfte, die Angst, abgeschoben zu werden, die eingeschränkte Gesundheitsversorgung und der fehlende Zugang zu Arbeit trügen dazu bei, dass sich psychische Erkrankungen verschlimmern oder sogar entwickeln. Knaevelsrud stellte dar, dass bei einer PTBS eine traumaadaptierte Psychotherapie die Behandlungsmethode der Wahl sei: "Das gilt selbstverständlich auch für Flüchtlinge." Darüber hinaus bräuchten Flüchtlinge in aller Regel weitere Unterstützung, vor allem psychosoziale und asylrechtliche Beratung.
Behandlungsnetzwerke für Flüchtlinge sind hilfreich
Sabine Lübben, niedergelassene Psychotherapeutin, stellte am Beispiel des Frankfurter Arbeitskreises Trauma und Exil (FATRA) vor, wie niedergelassene Psychotherapeuten in die multiprofessionelle Versorgung psychisch kranker Flüchtlinge eingebunden werden können. FATRA berate die Flüchtlinge und entscheide gemeinsam mit ihnen, ob eine Psychotherapie notwendig sei. Etwa jeder dritte Flüchtling entscheide sich für eine Psychotherapie und werde von FATRA an einen niedergelassenen Psychotherapeuten vermittelt. Auch nach der Vermittlung stehe FATRA als Ansprechpartner für die Psychotherapeuten zur Verfügung, um sie beim Antrag einer Psychotherapie zu unterstützen und z. B. Fragen zur interkulturellen Kompetenz und zur Arbeit mit Dolmetschern zu beantworten. Darüber hinaus helfe FATRA u. a. auch bei der Vermittlung von Begutachtungen von Traumafolgestörungen im Asylverfahren und schule Dolmetscher für die psychotherapeutische Behandlung.
Jedes fünfte Flüchtlingskind leidet unter einer PTBS
Cornelia Reher, therapeutische Leiterin der Flüchtlingsambulanz am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf, ging auf die Besonderheiten bei minderjährigen Flüchtlingen ein. Studien zufolge leide etwa jedes fünfte Flüchtlingskind unter einer PTBS. Insgesamt etwa 40 Prozent der Flüchtlingskinder zeigten psychische Auffälligkeiten, vor allem Schlafstörungen und Albträume. Aber auch psychisch bedingte Kopf- und Magenschmerzen kämen häufig vor. Etwa jedes fünfte Kind in der Flüchtlingsambulanz sei suizidal und einige zeigten schwere Selbstverletzungen. Reher betonte, dass sich mit der Ankunft in Deutschland nicht automatisch das Gefühl einstelle, in Sicherheit zu sein. Wie bei Erwachsenen sei auch bei Kindern eine traumaadaptierte Psychotherapie die Behandlungsmethode der Wahl. In der Flüchtlingsambulanz ständen außerdem noch kunsttherapeutische Angebote sowie Sozial- und Bildungsberatung zur Verfügung. Manchmal könne zusätzlich eine medikamentöse Behandlung sinnvoll sein.
Asylbewerberleistungsgesetz ist ein "traumatisierendes Gesetz"
Dr. Zahra Mohammadzadeh, Leiterin des Referats Migration und Gesundheit im Gesundheitsamt Bremen, berichtete über das "Bremer Modell". Sie stellte klar, dass die Ausgabe einer Gesundheitskarte an Flüchtlinge ein wichtiger Aspekt des "Bremer Modells" sei. Das Herzstück aber sei eine aufsuchende medizinische Erstversorgung von Flüchtlingen kurz nach ihrer Ankunft in Bremen. Anhand von Diagnosestatistiken verdeutlichte Mohammadzadeh, dass psychische Erkrankungen bei diesen Erstuntersuchungen noch zu wenig berücksichtigt werden. Sie wies darauf hin, dass das "Bremer Modell" zwar einen niedrigschwelligen Zugang zur Gesundheitsversorgung ermögliche, aber auch Bremen weiterhin im Korsett der eingeschränkten Gesundheitsversorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) stecke. Das Gesetz blende psychische Erkrankungen aus. Mohammadzadeh bezeichnete dessen Paragraph 4, nach dem nur akute Erkrankungen und Schmerzen behandelt werden dürfen, als "traumatisierenden Paragraphen" und plädierte dafür, die Einschränkungen im AsylbLG aufzuheben.
Psychosoziale Zentren ermöglichen Hilfe aus einer Hand
Elise Bittenbinder, Vorsitzende der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF), berichtete, dass jährlich 10.000 Flüchtlinge Hilfe in den Zentren suchten. Etwa jeder Dritte dieser Flüchtlinge erhalte eine Psychotherapie. Mindestens acht von zehn dieser Psychotherapiepatienten benötigten zusätzlich Unterstützung, z. B. asylrechtliche Beratung sowie sozialarbeiterische Angebote. Die Zentren böten diese Versorgung aus einer Hand. Die Finanzierung der Zentren sei jedoch unsicher. "Es fehlt eine verlässliche strukturelle Finanzierung", kritisierte Bittenbinder. Die Zentren müssten z. B. den größten Teil der Psychotherapien aus Spendengeldern und Zuschüssen finanzieren. Die Wartelisten auf einen Behandlungsplatz seien deshalb lang und viele Flüchtlinge müssten abgewiesen werden. Die Pläne des Gesetzgebers, Ermächtigungen für psychosoziale Zentren zu ermöglichen, seien ein wichtiger Schritt, reichten aber nicht aus. Es bedürfe einer grundlegenden institutionellen Förderung der Komplexleistungen der Zentren.
Podiumsdiskussion
Gemeinsam mit Abgeordneten aller Bundestagsfraktionen diskutierten Dr. Dietrich Munz, Dr. Ulrich Clever, Elise Bittenbinder und PD Dr. Meryam Schouler-Ocak, Vertreterin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, darüber, was politisch getan werden müsse, um die Versorgungssituation für psychisch kranke Flüchtlinge zu verbessern.
Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) forderte, dass "die Gesundheitsversorgung nicht in verschiedene Klassen eingeteilt werden dürfe". Flüchtlinge sollten in die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) einbezogen und die Kosten dafür durch den Bund getragen werden. Um die Versorgung psychisch kranker Flüchtlinge zu verbessern, bedürfe es außerdem einer gesicherten Finanzierung der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer. Auch Birgit Wöllert (DIE LINKE) plädierte dafür, dass Flüchtlinge die gleichen Gesundheitsleistungen erhalten sollten wie deutsche Bürger: "Was medizinisch notwendig, zweckmäßig und wirtschaftlich ist, muss gemacht werden." Gleichzeitig müsse der deutschen Bevölkerung vermittelt werden, dass Flüchtlinge ihnen nichts wegnehmen. Verbesserungen in der psychotherapeutischen Versorgung müssten parallel für alle Patientengruppen erzielt werden.
Finanzierung von Dolmetschern notwendig
BPtK-Präsident Munz hob hervor, dass eine Behandlung psychisch kranker Flüchtlinge aufgrund fehlender Dolmetscher oft gar nicht möglich sei. "Wir brauchen eine gesicherte Finanzierung von Dolmetschern", stimmte ihm PD Dr. Meryam Schouler-Ocak zu. "Das Dogma, dass die gesetzliche Krankenversicherung keine Dolmetscherleistungen finanziert, muss aufgegeben werden", forderte der BÄK-Menschenrechtsbeauftragte Clever. Für eine Aufnahme von Dolmetscherleistungen in den Leistungskatalog der GKV sprachen sich auch Maria Klein-Schmeink und Birgit Wöllert aus.
Ehrenamtliches Engagement stützen
BAfF-Vorsitzende Bittenbinder wies darauf hin, dass bundesweit viele ehrenamtliche Helfer ihr Bestes tun, um Flüchtlingen zu helfen: "Die Zivilgesellschaft überholt hier die Politik." Veranstaltungsteilnehmer mahnten an, die Last nicht allein auf die Schultern von ehrenamtlichen Helfern zu legen. Es sei nicht die Aufgabe von Ehrenamtlichen, die Arbeit von Professionellen zu übernehmen. "Deutschland muss es sich erlauben dürfen, Geld für die Versorgung psychisch kranker Flüchtlinge auszugeben", so Meryam Schouler-Ocak.
Keine eingeschränkten Gesundheitsleistungen für Flüchtlinge
Breite Zustimmung fand auch die Forderung, die Einschränkungen in den Gesundheitsleistungen im AsylbLG aufzuheben. Die gesetzliche Unterscheidung zwischen akuten Erkrankungen, die behandelt werden dürfen, und chronischen Erkrankungen, die nicht behandelt werden dürfen, sei unmenschlich und fachlich nicht haltbar.
BPtK-Präsident Munz beendete die Veranstaltung mit der Aufforderung an die Politik, die Probleme bei der Versorgung psychisch kranker Flüchtlinge gemeinsam mit der Profession zu lösen: "Wir Psychotherapeuten sind gerne bereit, dazu beizutragen, dass psychisch kranke Flüchtlinge eine angemessene Behandlung erhalten."
Veröffentlicht am 20. Oktober 2015