Dement, depressiv oder beides?
BPtK-Symposium zu Depression und Demenz im Alter am 1. Juli 2014 in Berlin
Wenn ältere Menschen unter Konzentrationsschwäche und Vergesslichkeit leiden, machen sie sich häufig Sorgen, dement zu werden. Geistige Einbußen im Alter müssen jedoch nicht zwangsläufig auf eine Demenz hinweisen, sondern können auch Symptome einer Depression sein. Depressionen mit kognitiven Einschränkungen sehen einer beginnenden Demenz manchmal zum Verwechseln ähnlich („Pseudodemenz“).
Aus diesem Grund veranstaltete die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) gemeinsam mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO), der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und dem Deutschen Hausärzteverband am 1. Juli 2014 in Berlin ein Symposium zu den Fragen, wie Depressionen und beginnende Demenzen im Alter richtig diagnostiziert und wie die Behandlung von depressiven älteren Menschen insgesamt verbessert werden kann.
Kooperation verschiedener Gesundheitsberufe wichtig
Prof. Dr. Rainer Richter, Präsident der BPtK, verdeutlichte in seiner Begrüßung die Relevanz des Themas. Bei bis zu 20 Prozent der älteren Menschen, die eine Gedächtnissprechstunde nutzten, seien die kognitiven Defizite auf eine Depression zurückzuführen. Zur diagnostischen Abgrenzung von Depression und beginnender Demenz sei in der Regel die Zusammenarbeit verschiedener Fachleute notwendig. Deshalb begrüße er es sehr, dass sich für dieses Symposium verschiedene Berufs- und Arztgruppen zusammengefunden haben. Neben der Diagnostik betreffe das auch die Behandlung von Depressionen im Alter. Zu viele ältere Patienten mit leichten Depressionen erhielten Antidepressiva und zu wenige Patienten würden psychotherapeutisch behandelt. Hier gebe es deutlichen Verbesserungsbedarf.
Für ein positives Altersbild im Gesundheitswesen
Prof. Dr. Ursula Lehr, Vorsitzende der BAGSO, betonte in ihrer Begrüßungsrede, dass es die demografische Entwicklung in Deutschland notwendig mache, sich stärker als bisher der angemessenen Diagnostik und Behandlung psychischer Erkrankungen bei alten Menschen zu widmen. Die Zahl Demenzkranker werde in Zukunft deutlich steigen – bis 2030 auf rund zwei Millionen. Mit der demografischen Entwicklung werde auch die Bedeutung depressiver Erkrankungen im Alter zunehmen. Etwa neun Prozent aller über 60-Jährigen leide unter einer behandlungsbedürftigen Depression. Nur wenige dieser Patienten würden jedoch angemessen diagnostiziert und behandelt. Dass depressive Erkrankungen bei alten Menschen häufig nicht erkannt würden, liege nicht nur an ihrer Ähnlichkeit mit beginnenden Demenzen, sondern auch an dem defizitorientierten Altersbild im Gesundheitswesen. Viele Behandler hielten es immer noch für „normal“, wenn ältere Menschen sich zurückzögen, vergesslich würden, sich für nichts mehr interessierten oder lebensüberdrüssig seien. Hier müsse sich etwas ändern, forderte Lehr. Ältere Menschen mit psychischen Erkrankungen müssten genauso selbstverständlich diagnostiziert und behandelt werden wie jüngere.
Diagnostik und Behandlung von Depressionen optimieren
Prof. Dr. Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, wies in seinem Grußwort darauf hin, dass es großes Optimierungspotenzial bei der Diagnostik und Behandlung von Depressionen im Alter gebe, vor allem weil das Suizidrisiko bei alten Menschen besonders hoch sei. Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe habe mit ihren Präventionsprogrammen dazu beigetragen, die Suizidalität in Deutschland zu senken. Dies reiche aber nicht aus. Das deutsche Gesundheitssystem müsse stärker auf die zunehmende Bedeutung psychischer Erkrankungen in unserer Gesellschaft reagieren. Dies betreffe in besonders starkem Maße die Versorgung psychisch erkrankter älterer Menschen. Defizite gebe es vor allem in der psychotherapeutischen Versorgung von Depressionen im Alter. Weniger als ein Prozent der älteren Menschen mit Depressionen erhalte eine Psychotherapie. Neben diesen Versorgungsdefiziten gebe es auch dringenden Forschungsbedarf in diesem Bereich.
Große Bedeutung des Hausarztes für psychisch kranke ältere Menschen
Dr. Dirk Mecking vom Deutschen Hausärzteverband betonte, dass der Hausarzt für die meisten alten Menschen der erste Ansprechpartner im Gesundheitswesen sei. Hausärzten käme daher auch bei der Differenzialdiagnostik von Depression und beginnender Demenz eine wesentliche Rolle zu. Hilfreich sei die langjährige Beziehung des Hausarztes zu seinen Patienten. Sie ermögliche es in besonderer Weise, Veränderungen im Fühlen, Denken und Verhalten bei Patienten frühzeitig zu erkennen und richtig einzuordnen. Hausärzte benötigten in einigen Fällen aber auch die Unterstützung anderer Ärzte und von Psychotherapeuten sowie praxistaugliche Testverfahren, um die richtige Diagnose treffen zu können. Außerdem müsse nach der Diagnosestellung der schnelle Zugang zu einer adäquaten Therapie für ältere Menschen mit Depressionen beziehungsweise beginnender Demenz gesichert werden. Hier gebe es Verbesserungsbedarf. Weiterhin forderte Mecking von der Politik, die Rahmenbedingungen für die Kooperation der beteiligten Gesundheitsberufe und damit die Versorgung der betroffenen alten Menschen zu verbessern.
Unterscheidung zwischen Depression und beginnender Demenz schwierig
Prof. Dr. Katja Werheid, Juniorprofessorin für Klinische Gerontopsychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, vermittelte in ihrem Vortrag grundlegende Informationen über demenzielle Erkrankungen und Depressionen im Alter. Depressionen und Demenzen gehörten zu den häufigsten psychischen Erkrankungen im Alter. Sie träten zudem häufig gemeinsam auf. Rund 30 bis 40 Prozent der Patienten mit leichter Alzheimer-Demenz oder leichter kognitiver Störung litten zusätzlich auch unter einer Depression. Diese beeinträchtige die Lebensqualität der Demenzerkrankten sowie ihrer Angehörigen und beschleunige den kognitiven Abbau.
Unbehandelte Depressionen könnten das Risiko für die Entwicklung einer Demenz erhöhen, warnte Werheid. Dabei müsse beachtet werden, dass es große Überlappungen zwischen den beiden Krankheitsbildern gebe. Typische Symptome beginnender Demenzen seien zum Beispiel Vergesslichkeit, kognitive Verlangsamung, Überforderung bei komplexen Aufgaben, sozialer Rückzug und Antriebslosigkeit. Diese Symptome könnten aber auch Anzeichen einer Depression sein. Aufgrund dieser Symptomüberschneidungen sei die Abgrenzung depressiver Erkrankungen mit kognitiven Symptomen von beginnenden Demenzen oder leichten kognitiven Störungen nicht einfach. Sie bedürfe einer ausführlichen und fachgerechten Diagnostik, die bisher jedoch nicht immer angemessen durchgeführt werde. Auch die Behandlung der Betroffenen sei verbesserungswürdig.
Für eine bessere Versorgung seien noch viele Fragen zu erörtern: Wie können beispielsweise die Differenzialdiagnostik von Depressionen und beginnender Demenz verbessert und Fehldiagnosen vermieden werden? Welche Testverfahren können dabei hilfreich sein? Wie können ältere Menschen mit Depressionen oder beginnender Demenz angemessen versorgt werden und welche Versorgungsstrukturen sind hierfür notwendig?
Schnelle Behandlung sicherstellen
Bernd Zimmer, Facharzt für Allgemeinmedizin und Klinische Geriatrie, beschrieb, welche Strukturen notwendig seien, um Menschen mit Depressionen und kognitiven Einbußen im Alter angemessen zu versorgen. Er machte deutlich, dass weder Demenzen noch Depressionen „Bring-Diagnosen“ seien. Ältere Menschen kämen nicht zu ihrem Hausarzt mit dem Ziel abzuklären, ob sie dement oder depressiv seien. Beide Erkrankungen seien „Such-Diagnosen“. Hausärzte sollten sich deshalb zukünftig noch häufiger aktiv beiden Erkrankungen zuwenden und ihre Patienten regelmäßig nach deren typischen Symptomen befragen, wie zum Beispiel Vergesslichkeit, Gedächtnisstörungen, Traurigkeit und Interessensverlust. Darüber hinaus gebe es Verbesserungsbedarf bei der Kooperation mit anderen Ärzten und Psychotherapeuten, stellte Zimmer fest. Bei etwa einem Viertel der älteren Patienten, bei denen es um die Abgrenzung von Depression und beginnender Demenz gehe, benötigten Hausärzte zusätzliche fachliche Expertise. Gerade bei Psychotherapeuten sei es jedoch häufig schwierig, kurzfristig einen Termin für zusätzliche diagnostische Untersuchungen zu erhalten. Psychotherapeuten, Neuropsychologen und Fachärzte sollten Hausärzte kurzfristig bei diagnostischen Fragen unterstützen. Zimmer gab ferner zu Bedenken, dass es mit einer verbesserten Diagnostik allein nicht getan sei. Auch die Defizite bei der Behandlung von depressiven älteren Menschen müssten behoben werden. Dies betreffe vor allem die langen Wartezeiten in der Psychotherapie sowie den Umgang mit der Verschreibung von Antidepressiva bei multimorbid erkrankten älteren Menschen.
Psychotherapie auch im Alter wirksam
Prof. Dr. Meinolf Peters, Geschäftsführer des Instituts für Alterspsychotherapie und Angewandte Gerontologie, ging in seinem Vortrag auf psychotherapeutische Ansätze bei der Behandlung von älteren und alten Menschen mit Depressionen und kognitiven Symptomen ein. Er machte darauf aufmerksam, dass ältere Patienten in der psychotherapeutischen Praxis immer noch deutlich unterrepräsentiert seien. Weniger als zehn Prozent der Patienten, die sich in Psychotherapie befänden, seien älter als 60 Jahre. Besonders benachteiligt seien weniger gut gebildete Menschen, Männer und Hochaltrige. Dies müsse sich ändern; vor allem weil viele verschiedene und nachweislich wirksame psychotherapeutische Ansätze für die Behandlung älterer Menschen mit Depressionen vorlägen. Diese reichten von kognitiven Trainings und „Engagement Interventions“ bis zu psychodynamischen Therapiekonzepten. Peters machte jedoch auch deutlich, dass die Wirksamkeit von Psychotherapie bei Menschen mit kognitiven Defiziten, zum Beispiel mit Störungen der Exekutivfunktionen, schlechter sei. Deshalb seien Anpassungen der psychotherapeutischen Behandlungskonzepte an Patienten mit kognitiven Defiziten notwendig.
Im Folgenden ging Peters auf ein psychodynamisches Konzept für die Behandlung älterer Menschen mit Depressionen ein. Hintergrund dieses Therapiekonzepts seien eine häufig hohe Komplexität der psychischen Erkrankung und eine strukturelle Vulnerabilität bei älteren Patienten. Diese sogenannte sekundäre strukturelle Vulnerabilität sei auf körperliche Erkrankungen, erlebte Kriegstraumatisierungen und kognitive Defizite bei älteren Menschen zurückzuführen. Wichtige Wirkkomponenten des vorgestellten Behandlungskonzepts seien eine hohe Bindungsorientierung, eine stimulierende und aktivierende Wirkung, der Aufbau von Bewältigungsmechanismen, die Nutzung vorhandener Ressourcen, die Stärkung der Mentalisierungsfähigkeit und die Förderung von Wissen über das Alter, vor allem auch über kognitive Veränderungen im Alter.
SSRI zur antidepressiven Behandlung bei dementen Patienten üblich
Prof. Dr. Hans Gutzmann, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie, erläuterte in seinem Vortrag die Chancen und Risiken der Pharmakotherapie bei Menschen mit Depressionen und kognitiven Symptomen im Alter. Etwa ein Drittel der Demenzerkrankten in deutschen Pflegeheimen werde mit Antidepressiva behandelt. Es gebe einen breiten Konsens in der Profession und in Leitlinien, depressive Symptomatik bei Demenzerkrankten mit Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern (SSRI) zu behandeln. Trizyklische Antidepressiva (TZA) sollten hingegen bei der Behandlung von Depressionen bei Demenzerkrankten vermieden werden, da sie zu einer Verschlechterung der Demenz-Symptomatik beitragen könnten.
Prof. Gutzmann wies jedoch auch darauf hin, dass trotz des breiten klinischen Konsenses die empirische Evidenz für die Wirksamkeit von SSRI bei der Behandlung von Depressionen bei Demenzerkrankten schwach sei. Dies reflektiere vor allem die unzureichende Quantität und Qualität der Datenlage, so Gutzmann. Wichtig sei es in jedem Fall, auf depressive Symptome bei Demenzpatienten zu achten. Für leichte und mittelgradige Depressionen sollten nichtmedikamentöse Behandlungsverfahren geprüft werden. Bei der Gabe von Antidepressiva bei dementen älteren Patienten sei es besonders wichtig, das Neben- und Wechselwirkungsrisiko zu beachten und Begleiterkrankungen zu berücksichtigen. Weiterhin sollten auch ältere Menschen angemessen über die Wirkung und die Nebenwirkungen von Antidepressiva aufgeklärt werden. Auf Grundlage der Auseinandersetzung mit den Ergebnissen verschiedener Wirksamkeitsstudien gab Gutzmann zu bedenken, dass es Hinweise darauf gebe, dass eine aufsuchende und zuwendungsorientierte Therapie von depressiven Demenzpatienten gleich wirksam sein könne wie eine Pharmakotherapie der Depression.
Diskussion
Im Anschluss an die Vorträge diskutierten die Experten darüber, wie die Versorgung von älteren Menschen mit Depression beziehungsweise beginnender Demenz verbessert werden könne. Sowohl bei der Differenzialdiagnostik zwischen Depression und Demenz als auch bei der Behandlung von Depressionen im Alter gebe es deutlichen Verbesserungsbedarf.
Die Beteiligten stimmten darin überein, die Sensibilität für psychische Erkrankungen bei älteren und alten Patienten in der hausärztlichen Versorgung weiter zu fördern. Notwendig sei außerdem die Weiterentwicklung und flächendeckende Etablierung praxistauglicher Testverfahren, die die Hausärzte bei der Diagnosestellung nutzen könnten. Auch eine verstärkte Schulung des Praxispersonals über Symptome psychischer Erkrankungen sei erforderlich. Das Verhalten im Wartebereich einer Hausarztpraxis gebe häufig wichtige Hinweise für die Diagnostik und Differenzialdiagnostik psychischer Erkrankungen.
Es wurde jedoch auch konstatiert, dass Hausärzte vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung unserer Gesellschaft mit der Versorgung älterer Menschen mit Depressionen und Demenzen nicht allein gelassen werden dürften. Vor allem für Psychotherapeuten und Neuropsychologen müsse es zukünftig selbstverständlicher werden, ihre diagnostische Expertise kurzfristig einzubringen und die Hausärzte bei der Diagnostik und Differenzialdiagnostik zu unterstützen.
Für einer bessere Behandlung psychisch kranker älterer Menschen seien vor allem niedrigschwellige Angebote notwendig, so die Expertenrunde. Dazu gehörten auch aufsuchende Psychotherapie und „Home Treatment“. Auch der Ausbau ambulanter Gruppenangebote für psychisch kranke ältere Menschen wurde angeregt.
Außerdem müsse sich das Bild vom alten Menschen im Gesundheitssystem ändern. Die Vorstellung vom traurigen und vergesslichen Alten, die noch in den Köpfen vieler Akteure im Gesundheitswesen stecke, müsse sich wandeln. Altern dürfe nicht mehr automatisch mit Abbau, Siechtum und Krankheit gleichgesetzt werden. Außerdem müssten ältere Menschen stärker über psychische Erkrankungen und ihre Behandelbarkeit informiert werden, wodurch zu einer Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen in der älteren und alten Generation beigetragen würde.
Auf Seiten der Psychotherapeutenschaft brauche es zukünftig eine größere Bereitschaft dafür, auch ältere Patienten zu behandeln. Hierfür könne es hilfreich sein, Inhalte der Alterspsychotherapie und der Gerontologie stärker in die Psychotherapeutenausbildung zu integrieren und damit die Kompetenz der Psychotherapeuten in der Behandlung dieser spezifischen Patientengruppe zu fördern.
Weiterhin waren sich die Experten einig, dass auch eine stärkere Zuwendung zu denjenigen Personen notwendig sei, die sich um das Wohlergehen der Erkrankten kümmerten. Häufig seien diese „Kümmerer“ – meist Angehörige – mit der Versorgung der an Demenz beziehungsweise Depression erkrankten Älteren überlastet und benötigten professionelle Unterstützung.
Insgesamt bestand Konsens darin, dass die Kommunikation und Kooperation zwischen den beteiligten Berufsgruppen verbessert werden müsse. Die Experten stellten jedoch auch fest, dass für viele der diskutierten Vorschläge neue Versorgungsstrukturen geschaffen werden müssten. Notwendig sei vor allem eine differenzierte psychotherapeutische Versorgung mit Angeboten zur kurzfristigen Diagnose- und Indikationsstellung sowie mit niedrigschwelligen und zeitnahen Therapieangeboten. Die BPtK hat dafür bereits ein Konzept für eine differenzierte psychotherapeutische Versorgung erarbeitet. Die Experten waren sich auch einig darüber, dass die Politik die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen müsse, um eine angemessene Versorgung von älteren und alten Menschen, die häufig einen komplexen Versorgungsbedarf haben und multiprofessionell betreut werden müssen, zu gewährleisten.
Veröffentlicht am 22. Juli 2014