Diotima-Ehrenpreis 2014 für Prof. Dr. Ursula Lehr
Würdigung für ein differenziertes und realistisches Altersbild
Prof. Dr. Dr. h. c. Ursula Lehr ist die Preisträgerin des Diotima-Ehrenpreises 2014. Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) ehrt mit Prof. Lehr eine Wissenschaftlerin und Politikerin, die sich für ein differenziertes und realistisches Altersbild in unserer Gesellschaft und eine angemessene Gesundheitsversorgung älterer Menschen einsetzt.
Prof. Ursula Lehr (geb. 1930) studierte in Frankfurt und Bonn Psychologie, Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte. Nach ihrer Promotion und Habilitation sowie Tätigkeiten als Hochschullehrerin für Psychologie an verschiedenen Universitäten, übernahm Prof. Lehr 1986 den ersten deutschen Lehrstuhl für Gerontologie in Heidelberg. Dort war sie bis zu ihrer Emeritierung 1998 tätig. Gemeinsam mit Prof. Dr. Hans Thomae initiierte sie die erste deutsche Längsschnittstudie zum späten Erwachsenenalter (Bonner Gerontologische Längsschnittstudie). Ein wichtiger Befund dieser Studie lag im Aufzeigen großer interindividueller Unterschiede im Altersprozess. Daraus zog Prof. Lehr den Schluss, dass die selbstverantwortliche und aktive Gestaltung des Alterns wesentlich für einen erfolgreichen Altersprozess ist. In Folge trieb Prof. Lehr die interdisziplinäre Erforschung der Aufrechterhaltung körperlicher und psychischer Gesundheit im hohen Alter voran (Interdisziplinäre Längsschnittstudie des Erwachsenenalters). 1995 gründete sie das Deutsche Zentrum für Alternsforschung in Heidelberg. Von 1988 bis 1991 war sie Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. In dieser Zeit setzte sie sich maßgeblich für die Etablierung des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten als akademische Heilberufe ein. Als Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO) engagiert sich Prof. Lehr seit 2009 für ein selbstbestimmtes Leben im Alter, die gesellschaftliche Teilhabe älterer Menschen, ein solidarisches Miteinander der Generationen und eine angemessene gesundheitliche Versorgung älterer Menschen.
BPtK-Präsident Prof. Dr. Rainer Richter stellte in seinem Grußwort dar, dass die demografische Entwicklung der Gesellschaft ein zentrales Thema der aktuellen Politik sei. Dies betreffe auch den Bereich der Gesundheitsversorgung. Die zunehmende Langlebigkeit habe zur Folge, dass die Angebote zu Prävention und Behandlung stärker an die Bedarfe und Wünsche älterer Menschen angepasst werden müssten. Das Gesundheitssystem müsse sich auf die wachsende Zahl von Alterskrankheiten einstellen und die Besonderheiten bei der Behandlung älterer und alter Patienten beachten. Dies gelte auch für die Psychotherapie. In den nächsten Jahrzehnten werde die Zahl der Demenzerkrankungen deutlich zunehmen. Auch die Behandlung von Depressionen im Alter werde zukünftig eine wesentlich größere Rolle spielen. Wie unsere Gesellschaft diese Herausforderung meistere, hänge maßgeblich auch von den Vorstellungen über das Altern und das Alter ab. Die BPtK ehre deshalb mit Prof. Lehr eine Frau, die mit ihren Forschungen zeigen konnte, dass ein einseitig defizitorientiertes Bild des Alterns falsch sei. Seit Langem setze sich Prof. Lehr für ein differenziertes und realistisches Bild des alten Menschen in unserer Gesellschaft ein. Sie vermittle uns die Einsicht, dass das Bild vom „nicht therapiefähigen Alten“ überkommen sei. Damit trage sie zu einer angemessenen gesundheitlichen Versorgung älterer Menschen bei.
Prof. Dr. Eva Jaeggi, Verhaltenstherapeutin und Psychoanalytikerin, ging anschließend in ihrem Vortrag darauf ein, was das Alter für die Psychotherapie bedeute. Häufige Themen, die in der Psychotherapie mit alten Menschen eine Rolle spielten, seien die Verringerung sozialer Kontakte, veränderte berufliche und familiäre Rollen, Verluste nahestehender Personen und der Umgang mit erlebten Kriegs- und Nachkriegstraumata. Prof. Jaeggi unterstrich die Notwendigkeit, dem älteren Patienten in der Psychotherapie ein differenziertes Bild des Alterns zu vermitteln. Einerseits das Bild vom alten Menschen, der weiterhin die Fähigkeit besitze, sich zu verändern. Anderseits aber auch das Bild vom alten Menschen, der loslassen könne, der nachdenklicher werde und zur Ruhe komme – ohne dabei zu resignieren. Wichtig für die Psychotherapie bei alten Patienten sei es außerdem, dem Patienten „sehr viel Nähe“ zu geben. Eine Herausforderung bei der Behandlung alter Menschen könne auch darin bestehen, dass die Auseinandersetzung mit dem Alter bei den Psychotherapeuten selbst Ängste vor der eigenen Gebrechlichkeit auslöse. Prof. Jaeggi würdigte die Verdienste Prof. Lehrs bei der Erforschung der Lebenswelten älterer Menschen. Sie betonte, dass wir dank des Engagements von Prof. Lehr heute eine optimistischere Sicht auf das Alter hätten. Man brauche das Alter nicht zu fürchten, wenn man eine realistische Sicht darauf habe. Diese Erkenntnis sei sowohl für den alten Menschen selbst, als auch für den Psychotherapeuten, der diesen behandle, hilfreich.
In seiner Laudatio würdigte Prof. Dr. Andreas Kruse, Nachfolger von Frau Lehr am Lehrstuhl für Gerontologie in Heidelberg, Prof. Lehr als hervorragende Wissenschaftlerin, die der Betrachtung des Alt-Werdens und des Alt-Seins eine neue Richtung gegeben habe. Prof. Lehr sei eine hoch kompetente und hoch dynamische Frau mit „élan vital“, die die Fähigkeit besitze, sich am Erfolg anderer zu erfreuen. Als Politikerin habe sie sich durch ihren Mut, ihre Diskussionsfreudigkeit und ihre Durchsetzungsfähigkeit ausgezeichnet.
In seiner Festrede beleuchtete Prof. Kruse die Bedeutung von Lehrs Lebenswerk für die Psychotherapie. Er betonte, dass mit ihrem Engagement die Lebenslaufforschung und die Psychotherapie zueinander gefunden hätten. Lehrs wissenschaftliche Arbeiten hätten gezeigt, dass der Altersprozess nicht rein biologisch determiniert, sondern gestaltbar sei. Vor diesem Hintergrund habe Prof. Lehr das Forschungsgebiet der Interventionsgerontologie begründet, das sich mit der Frage beschäftige, wie ein gesunder Altersprozess gelingen könne. Die Erkenntnis der Gestaltbarkeit des Altersprozesses sei auch für die Psychotherapie von essentieller Bedeutung. Die Aufgabe von Psychotherapeuten sei es, ältere Patienten bei der „Selbstgestaltung des Alterns“ zu unterstützen. Daneben hätten Prof. Lehrs Forschungen auch gezeigt, dass das Erzählen von Erlebten und das Weitergeben von Erfahrungen wichtig für das Wohlbefinden älterer Menschen seien. Der intergenerationelle Dialog befriedige das Bedürfnis alter Menschen nach „Mitverantwortung“ und „Weltgestaltung“. Diese Erkenntnis sei auch für die Psychotherapie wichtig. Die häufig jüngeren Therapeuten müssten in besonderem Maße bereit sein, ihren älteren Patienten zuzuhören, in einen intergenerationellen Dialog zu treten und die Biographie des Patienten zu verstehen. Die Förderung der Selbstreflektion über die eigene Biographie und die Stärkung der Selbstgestaltung des aktuellen und zukünftigen Lebens seien wesentliche Aspekte in der Psychotherapie älterer Menschen. Prof. Kruse begleitete die Festveranstaltung auch musikalisch mit Klavierstücken von Johann Sebastian Bach.
Prof. Richter würdigte in seiner Preisverleihungsrede Prof. Lehrs Engagement für ein differenziertes und realistisches Altersbild in unserer Gesellschaft. Weiterhin betonte er die Bedeutsamkeit von Prof. Lehrs Tätigkeit als Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO), im Rahmen derer sie sich auch für eine angemessene Gesundheitsversorgung älterer Menschen stark mache. Besonders dankte er Prof. Lehr für ihre Verdienste als Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit bei der Verabschiedung des Psychotherapeutengesetzes 1998. Sie habe mit der Ausschreibung eines Forschungsgutachtens den Grundstein für das Psychotherapeutengesetz gelegt. Ohne ihre Durchsetzungsfähigkeit wäre die Etablierung des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten als akademische Heilberufe nicht möglich gewesen.
In ihrer Dankesrede ging Prof. Lehr vertiefend auf die Folgen der demografischen Entwicklung für unsere Gesellschaft, das Gesundheitswesen und jeden einzelnen Menschen ein.
Sie beleuchtete die Herausforderungen unserer zunehmenden Langlebigkeit für die Psychotherapie. Psychotherapeuten müssten sich auf eine erhöhte Zahl psychisch kranker älterer und alter Patienten einstellen. Die Zahl derer, die an Demenz erkranken, werde in den nächsten Jahrzehnten deutlich steigen. In diesem Zusammenhang werde auch die Zahl pflegender Angehöriger wachsen. Diese seien häufig psychisch belastet und benötigten nicht selten auch psychotherapeutische Hilfe. Außerdem werde auch die Bedeutung anderer psychischer Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen im Alter zukünftig deutlich zunehmen. Prof. Lehr wies auch auf die aktuelle Unter- und Fehlversorgung psychisch kranker älterer Menschen hin. Noch zu wenige ältere und alte Menschen mit psychischen Erkrankungen erhielten eine Psychotherapie. Gründe hierfür seien vor allem das Vorurteil vieler Behandler von der „Untherapierbarkeit“ alter Menschen sowie die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen und die Vorbehalte bei den älteren Menschen selbst gegenüber Psychotherapie. Prof. Lehr betonte, dass psychische Erkrankungen auch im Alter behandelbar seien und forderte, mehr zu tun, um ältere Menschen mit psychischen Erkrankungen angemessen zu behandeln.
Veröffentlicht am 27. Mai 2014