Integrierte Versorgung Schizophrenie
AOK Niedersachsen kooperiert mit Pharmatochter
Menschen, die an einer Schizophrenie erkrankt und AOK-versichert sind, bekommen seit dem 1. Oktober in Niedersachsen ein spezielles Versorgungskonzept angeboten: Sie können sich für die "Integrierte Versorgung Schizophrenie" entscheiden und erhalten insbesondere erweiterte ambulante Angebote, wie aufsuchende Behandlung und die Rund-um-die-Uhr-Betreuung durch einen ambulanten psychiatrischen Pflegedienst.
Ziel des Konzeptes ist es, den Patienten ein weitgehend normales Leben außerhalb des Krankenhauses zu ermöglichen. Rose-Marie Seelhorst, Vorsitzende der Angehörigen psychisch Kranker in Niedersachsen, begrüßte das neue sektorenübergreifende Versorgungsangebot, weil "Menschen, die an einer Schizophrenie leiden, die aufsuchende psychiatrische Pflege und eine jederzeit verfügbare Krisenhilfe unbedingt brauchen".
Der neue IV-Vertrag Schizophrenie hat der AOK Niedersachsen bereits einige Kritik eingetragen, weil sie dabei mit dem "Institut für Innovation und Integration im Gesundheitswesen" (I3G GmbH), einer Tochtergesellschaft der Janssen-Cilag, kooperiert. Die AOK Niedersachsen entschied sich für die I3G als Vertragspartner aufgrund des angebotenen sektorenübergreifenden und leitlinienbasierten Versorgungskonzeptes und "weil wir einen starken Partner suchten, der in der Lage ist, den Aufbau einenrflächendeckenden ambulanten Versorgung zu finanzieren".
Grundlage des neuen Versorgungsangebotes ist die integrierte Versorgung nach § 140b SGB V. Bundesweit sind seit dem Jahr 2000 mehrere tausend IV-Verträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern geschlossen worden. Mit der "IV Schizophrenie" ist erstmalig auch die Tochter eines Pharmaunternehmens als Managementgesellschaft beteiligt. Mit dem Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) geht das Bundesgesundheitsministerium nun noch einen Schritt weiter, Das AMNOG ermöglicht, dass ab dem 01.01.2011 Pharmaunternehmen sogar direkt mit den Krankenkassen IV-Verträge abschließen können. Bisher war dies Krankenkassen und Leistungserbringern vorbehalten. "Dies stellt einen Paradigmenwechsel in der Versorgung dar, der nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit erfolgte und politisch nicht ausreichend diskutiert wurde", kritisierte Prof. Dr. Rainer Richter, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK). "In Zukunft können gewinnorientierte Unternehmen, die im Gegensatz zu Ärzten und Psychotherapeuten nicht an eine Berufsordnung gebunden sind, die Behandlung von psychisch kranken Menschen direkt mitgestalten. Transparenz über die Inhalte der geschlossenen Versorgungsverträge sowie externe Qualitätssicherung sind in diesem Fall noch wichtiger als sonst."
I3G übernimmt als Managementgesellschaft (im Sinne des § 140b SGB V) die Budgetverantwortung für die Versorgung aller AOK-Versicherten in Niedersachsen, die an einer Schizophrenie erkranken, unabhängig davon, ob sie das spezielle Angebot einer integrierten Versorgung nutzen oder nicht. Der Vertrag kostet die AOK Niedersachsen maximal die Summe, die sie bisher für Schizophrenie-Patienten ausgibt. Offiziell nannte die AOK keine Zahlen, widersprach aber auch nicht der Rechnung, wonach sie mit durchschnittlich 4.000 Euro je Patient kalkuliert, der Summe, die sie aus dem Finanzausgleich der Krankenkassen (Morbi-RSA) für jeden Schizophrenie-Patienten erhält. Bei 13.000 AOK-Versicherten, die an einer Schizophrenie leiden, ergibt sich danach ein Budget von ca. 52 Millionen Euro. I3G hat sich vertraglich verpflichtet, eventuelle Mehrkosten über die Budgetgrenze hinaus zu übernehmen. Gewinne sind möglich, wenn durch eine rechtzeitige und stärker ambulante Behandlung der Schizophrenie Klinikaufenthalte verkürzt oder vermieden werden. Die Kosten für eine stationäre Behandlung betragen bei Erstdiagnosen pro Jahr bundesweit durchschnittlich rund 33.000 Euro. Schizophrenie ist eine der teuersten psychischen Erkrankungen. Je später die Behandlung beginnt, desto ungünstiger ist der Verlauf.
Die Behandlung im IV-Vertrag soll auf der S3-Leitlinie "Schizophrenie" und der S1-Leitlinie "Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Störungen" basieren. In beiden Leitlinien wird die Bedeutung einer multiprofessionellen Therapie, die aus mehreren Bausteinen besteht, betont. Neben einer medikamentösen Behandlung und Psychoedukation empfiehlt die Leitlinie "Schizophrenie" Psychotherapie insbesondere in der Vorphase einer schizophrenen Erkrankung (präpsychotischen Prodromalphase) und zur Rückfallprophylaxe. "Wir werden darauf achten, ob diese Leitlinienempfehlung umgesetzt wird, denn Psychotherapie kommt die Managementgesellschaft teurer als Pharmakotherapie mit Psychoedukation", mahnte BPtK-Präsident Richter.
Unterschiede zwischen der neuen integrierten Versorgung und der bisherigen Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung bestehen nach der AOK Niedersachsen insbesondere im "Case Management" und "Home Treatment" durch eine ambulante psychiatrische Pflegekraft, die auch persönlicher Ansprechpartner ("Bezugstherapeut") in Krisensituationen ist. Der Patient kann die ambulante psychiatrische Pflegekraft rund um die Uhr anrufen. Bei einer Krise informiert der psychiatrische Krankenpfleger den behandelnden Arzt, der über weitere ambulante Schritte oder eine Klinikeinweisung entscheidet. Dabei erfolgt die Behandlung nach einem leitlinienbasierten Behandlungspfad, in dem genau festgelegt ist, welcher Partner des Netzwerkes was wann für einen Patienten leistet und wie die Zusammenarbeit der einzelnen Akteure aussieht. Wie dieser Behandlungspfad im Detail aussieht und ob der Patient neben der medikamentösen Therapie und Psychoedukation auch regelmäßig Psychotherapie oder andere Therapien erhält, ist nicht bekannt. Transparenz hierüber wäre für Patienten jedoch eine wichtige Voraussetzung, um eine informierte Entscheidung über die Teilnahme an dieser integrierten Versorgung treffen zu können.
Die Häufigkeit des Fallmanagements gilt als ein Qualitätsindikator, der dokumentiert und in jährlichen Qualitätsberichten veröffentlicht wird. Weitere Qualitätsindikatoren sind die zeitnahe ambulante Weiterbehandlung nach stationärer Entlassung, der Einbezug der Angehörigen in die Behandlung, die Psychoedukation der Patienten, die Vermeidung antipsychotischer Polypharmazie sowie ein regelmäßiges Nebenwirkungsmonitoring. In regelmäßigen, extra vergüteten Behandlungskonferenzen wird außerdem die Therapie im Team abgestimmt und fortlaufend angepasst. Die AOK Niedersachsen betont, dass der Arzt völlige Therapiefreiheit behält und alle verfügbaren Medikamente verordnen kann, die für die Behandlung von Schizophrenie zugelassen sind. Der Vertrag enthält eine Klausel gegen die Ausweitung von Marktanteilen eines pharmazeutischen Unternehmens. Sollte sich anhand der Abrechnungsdaten eine Ausweitung abzeichnen, "löst dies Gegenmaßnahmen aus".
Jeder Patient, der sich für das neue IV-Angebot entscheidet, hat Anspruch auf einen achtstündigen Schulungskurs ("Psychoedukation") und später auf kurze Auffrischungs- und Verstärkungskurse. Die Angehörigen bekommen ebenfalls das Angebot, sich in Kursen über die Krankheit Schizophrenie, deren Behandlung und ihre eigene Rolle zu informieren. In der bisherigen Regelversorgung erfolgt diese Psychoedukation meist nur sporadisch, in der Regel wenn der Patient erneut stationär behandelt wird. Außerdem gehört es zu den expliziten Aufgaben des psychiatrischen ambulanten Pflegedienstes, den Patienten soziale Trainingsprogramme und Maßnahmen der Arbeitsrehabilitation anzubieten.
Inwieweit der neue IV-Vertrag seinen Anspruch einer gemeindenahen, multiprofessionellen Behandlung nach anerkannten wissenschaftlichen Behandlungsstandards erfüllt, wird sich erst zeigen. Die I3G hat angekündigt, einen jährlichen Qualitätsbericht zu veröffentlichen. Diese Qualitätsberichte werden jedoch nur dann glaubwürdig sein, wenn in ihnen alle Qualitätsindikatoren und umfassende Angaben zur Prozess- und Strukturqualität veröffentlicht werden. Nur dann wird es für Patienten und andere möglich sein, das Versorgungsangebot zu beurteilen und zu überprüfen, ob die Bedenken in Richtung einer interessengeleiteten, vor allem medikamentös ausgerichteten Behandlung wirklich ausgeräumt werden können.
Veröffentlicht am 03. Dezember 2010