Leben in Trennung ist jetzt noch komplizierter
Erfahrungsbericht 6: Jörg Hermann, Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche
Manches lässt sich nicht verschieben, auch nicht in Coronazeiten. Zum Beispiel: Die Unterstützung für eine Mutter, die gerade Drillinge entbunden hat. „Da ist es wichtig, schnell und unbürokratisch Hilfe zu organisieren, damit nicht gleich in den ersten Tagen die Eltern überfordert sind“, berichtet Jörg Hermann, Psychotherapeut in der Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche im niedersächsischen Landkreis Wolfenbüttel.
Anderes hat trotz Coronakrise mehr Zeit. „Noch haben wir persönliche Termine in der Beratungsstelle“, schildert Jörg Hermann die Situation. „Viele haben die Termine jedoch verschoben oder nutzen unsere Telefonberatung.“ Für Eltern, bei denen Home-Office und Home-Schooling zu heftigeren Konflikten führt, hat die Beratungsstelle eine Corona-Hotline eingerichtet. Viele Eltern scheinen allerdings mit dem intensiveren Familienleben noch gut zurecht zu kommen, nutzen das schöne Wetter für Spaziergänge und Gespräche, die sonst nicht möglich sind. „Längst nicht überall herrscht Lagerkoller.“
Psychisch kranke Menschen ringen jedoch häufig um Stabilität, weil Kitas und Schulen und auch viele Betriebe geschlossen sind. Etwa die chronisch depressiv kranke Mutter, der die gewohnten Tagesabläufe verloren gingen. Da die Kinder nicht mehr zur Schule müssen, ist morgens der fixe Startpunkt weggefallen. Draußen setzten ihr Ansteckungsängste zu: „Kann sie noch zur Physiotherapeutin gehen, obwohl dort doch nicht der 2-Meter-Abstand eingehalten werden kann?“ „Reicht ein Mundschutz aus, um sich zu schützen?“ Ihre Unsicherheit war so groß, dass sie immer wieder die Luft angehalten hat, wenn der Physiotherapeut ihrem Kopf zu nahe kam. „Die Coronakrise verstärkt nicht selten bestehende Ängste und Rückzugsneigungen“, erklärt Psychotherapeut Jörg Hermann. „Insbesondere psychisch erkrankte Menschen haben jetzt noch größere Schwierigkeiten, das innere Gleichgewicht zu wahren. Wir helfen dabei, dass die Mutter weiter für ihre Familie da sein kann.“ Auch soziale Unterschiede werden offensichtlicher. „Manchen unserer Klient*innen fällt angesichts geschlossener Spielplätze besonders auf, dass andere Familien einen eigenen Garten zur Verfügung haben.“
Viele Gespräche führt die Beratungsstelle allerdings auch mit Eltern, die sich gerade trennen oder aushandeln, wann wer die Kinder sieht. Eine Mutter macht sich jetzt Sorgen, wenn sie das Kind zum Vater schickt. Die zweieinhalbjährige Tochter sollte Ostern zu ihm und das erste Mal übernachten. Die Großmutter, die zur Unterstützung kommen sollte, kann jetzt aber nicht anreisen, da das Infektionsrisiko für sie zu groß ist. Der Vater fragte sehr verzweifelt, ob er seine Tochter denn jetzt überhaupt noch sehen kann. „Die Eltern konnten untereinander keine Entscheidung fällen, wir haben zusammen nach Wegen gesucht“, berichtet Jörg Hermann. „Corona macht das Leben in Trennung noch komplizierter, als es ohnehin schon ist.“
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Veröffentlicht am 08. April 2020