"So viel Familienleben war selten"
Erfahrungsbericht 3: Sabine Bittner, Leiterin der Familien- und Schulberatung in Herne
Die Stadt Herne beugte vor: Ab sofort hatten die städtischen Mitarbeiter*innen aufgrund der hohen Ansteckungsgefahr durch den Coronavirus die direkten Kontakte mit Bürger*innen auf das Notwendige zu beschränken. Für die Familien- und Schulberatung der Stadt Herne hieß dies: Keine Beratung mehr im unmittelbaren Gegenüber. „Wir mussten unsere Beratungen grundlegend anders anbieten“, berichtet Sabine Bittner, die Leiterin. Alle Mitarbeiter*innen riefen zunächst die Familien an, mit denen sie in Kontakt standen, um die verabredeten Termine abzusagen und stattdessen eine telefonische Beratung anzubieten. „Keine Familie sollte mit ihren Schwierigkeiten alleine bleiben“, gab Sabine Bittner als Losung aus. Viele Eltern oder Jugendliche waren darüber ebenso überrascht wie erfreut. Endlich mal einer, der sie weiter im Blick hatte.
Denn nicht wenige fühlen sich inzwischen in ihren Wohnungen vergessen. Viele Eltern und Jugendliche sind zwar grundsätzlich einverstanden mit dem drastischen Gesundheitsschutz, der so viele gravierende Einschränkungen des alltäglichen Lebens mit sich bringt. Doch der Beratungsbedarf ist dadurch eher größer als kleiner geworden. Viele Eltern sind ohne Arbeit, weil ihr Betrieb geschlossen wurde, oder sie arbeiten von zu Hause aus. Gleichzeitig sind Kitas und Schulen geschlossen und die Kinder den ganzen langen Tag zu Hause. „So viel Familienleben war selten“, stellt die Leiterin der Herner Beratungsstelle fest, „aber auch damit müssen Eltern und Kinder erst einmal zurechtkommen.“
»Ein besonderes Problem sind die Hausaufgaben, die nicht selten Kinder wie Eltern überfordern“, berichtet Sabine Bittner, die als Psychologische Psychotherapeutin ausgebildet ist. Auch viele Eltern haben die gewohnte Tagesstruktur verloren oder sind zutiefst beunruhigt, weil sie sich existenzielle Sorgen machen. In einer solchen Ausnahmesituation ist nicht immer einfach, auch noch den ganzen Tag die Kinder zu betreuen und ihnen bei den Hausaufgaben zu helfen. „Die Hausaufgaben sind nicht selten zu schwierig“, berichtet die Leiterin der Familien- und Schulberatung. Die Jugendlichen können sich häufig den neuen Stoff nicht selbst erschließen und auch die Eltern wissen nicht immer weiter. Manche Jugendliche beginnen nach kurzer Zeit, die Schule zu vermissen, selbst wenn sie vorher nicht zu den eifrigsten Schüler*innen gehörten.
»Überall in den Familien herrscht verständlicherweise ein großes Experimentieren und Improvisieren“, schildert Psychotherapeutin Sabine Bittner den Prozess, in dem sich die Familien neu organisieren und ihren Alltag anpassen: „Ich zolle den Eltern erst einmal Respekt. Die Herausforderungen durch die Coronakrise sind keineswegs leicht zu meistern. Da ist Geduld nötig, damit in den Familien jeder für sich wieder das rechte Maß an Nähe und Distanz, Struktur und Halt findet.“ Sabine Bittner rät manchen Eltern, die Ansprüche bei der Bewältigung der Hausaufgaben herunterzuschrauben. „Eltern sind keine Lehrer*innen. Nebenher zu unterrichten kann schnell überfordern.“
Die telefonische Beratung klappt inzwischen besser als gedacht. Die Familien- und Schulberatung Herne macht jetzt Termine für längere Beratungsgespräche und bietet telefonische Erstgespräche an. „Vieles lässt sich auch am Telefon gut besprechen“, fasst Sabine Bittner die ersten Erfahrungen zusammen. „Dass wir weiter Kontakte und Gespräche ermöglichen, nehmen die allermeisten Eltern und Jugendlichen erfreut und dankbar an.“ Seit dem 25. März hat die Herner Beratungsstelle eine „Familienhotline“, unter der sich Eltern, Kinder und Jugendliche melden können, um über Spannungen und Probleme zu sprechen. Allerdings fällt auch manches weg, insbesondere für Familien, deren Kinder aufgrund einer seelischen Behinderung besondere Hilfen bekommen. „Diese Hilfen sind oft nicht mehr möglich“, bedauert Sabine Bittner. „Das heißt aber nicht, dass wir nicht versuchen, die Eltern weiter zu unterstützen und ihnen in dieser schwierigen Zeit beizustehen.“
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Veröffentlicht am 31. März 2020