Über die Grenzen zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit?
BPtK-Symposium zum neuen DSM-V
Am 18. Mai 2013 veröffentlichten die US-Psychiater (American Psychiatric Association/APA) ihr neues Klassifikationssystem psychischer Erkrankungen, das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders V (DSM-V). Die fünfte Fassung des Diagnostik-Handbuchs löste bereits in den USA, mittlerweile aber auch in Europa, heftige Kritik aus. Kritiker werfen den US-Psychiatern vor, die diagnostischen Kriterien für psychische Erkrankungen aufzuweichen und alltägliche seelische Krisen zur Krankheit zu erklären, für die dann eine Behandlung notwendig sei. Vor diesem Hintergrund veranstaltete die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) gemeinsam mit den Universitäten Marburg, Frankfurt und Mainz ein Symposium zum DSM-V. Hauptredner war Prof. Dr. Allen Frances, der Vorsitzender der Entwicklergruppe des DSM-IV war und nun als einer der schärfsten Kritiker des neuen Diagnose-Handbuchs gilt.
Allen Frances: Überdiagnostik und Pharmaindustrie
Prof. Frances warnte davor, dass das Aufweichen der diagnostischen Kriterien psychischer Erkrankungen zu einer weiteren Überversorgung mit Psychopharmaka und einer schlechteren Versorgung von Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen führen könne, da die Ressourcen im Gesundheitssystem begrenzt seien. Die geplante Absenkung der diagnostischen Kriterien wie auch die Aufnahme neuer psychischer Störungen in das DSM-V habe zur Folge, dass noch mehr Menschen als psychisch krank diagnostiziert und mit Psychopharmaka behandelt würden. In den USA sei es Pharmaunternehmen gestattet, Direktwerbung für ihre pharmazeutischen Produkte bei Kunden bzw. Patienten zu machen, was auch in aggressiver Weise genutzt werde. Inzwischen nehme jeder fünfte erwachsene Amerikaner ein Medikament wegen eines psychischen Leidens ein. Im Jahr 2010 hätten elf Prozent der Erwachsenen ein Antidepressivum und vier Prozent der Kinder ein Stimulans erhalten.
Nach der Einschätzung von Frances führe jede Ausweitung des Krankheitsbegriffs auch zu einer Ausweitung der Diagnosen und der Pharmakotherapie. Dazu gehöre auch die Verordnung von Medikamenten außerhalb des behördlich genehmigten Gebrauchs bei Anwendungsgebieten, für die der Wirkstoff noch keine Zulassung habe (Off-Label-Use). Dies sei beispielsweise bei den Neuroleptika-Verordnungen zu erkennen, die inzwischen in den USA Kosten von 18 Milliarden Dollar verursachen und damit einen Anteil von sechs Prozent am Gesamtumsatz für Arzneimittel ausmachten. Jeder vierte Bewohner eines Pflegeheims erhalte zur Ruhigstellung ein Neuroleptikum – trotz des hohen Schadenspotenzials. Die Ausgaben für Antidepressiva betrügen im Jahr 2011 rund elf Milliarden Dollar, während für ADHS-Medikamente knapp acht Milliarden Dollar ausgegeben würden.
DSM-III und die Krise der Diagnostik
Die Entwicklung des DSM-III im Jahr 1980 sei ein kulturelles Ereignis gewesen, erläuterte Frances. Die wissenschaftliche Diagnostik psychischer Erkrankungen habe sich zuvor in einer schweren Krise befunden, da sie sich als wenig verlässlich erwiesen hätte. Bei der Anwendung der diagnostischen Kriterien an Hand von Patientenvideos hätte es nur eine geringe Übereinstimmung zwischen den Beurteilern gegeben. Dies habe dazu geführt, dass beim DSM-III die diagnostischen Kategorien enger definiert und die einzelnen Kriterien spezifischer operationalisiert wurden, um die Reliabilität und Validität der Diagnosen zu erhöhen. Bei der Entwicklung des DSM-IV sei die von ihm geleitete Kommission sehr konservativ vorgegangen und es habe letztlich nur zwei größere Änderungen gegeben: die Ergänzung der Diagnose Bipolar II und des Asperger-Syndroms. In beiden Fällen sei es in der Folge allerdings zu massiven Anstiegen der Diagnoseraten und damit der medikamentösen Behandlungen gekommen, weswegen er diese obschon geringe Ausweitung mittlerweile bedauere.
Wenn es zu einem solch epidemischen Ansteigen der Diagnoserate komme, handele es sich weniger um eine tatsächliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung, als vielmehr um eine veränderte Bezeichnung für bestimmte Phänomene. So hätten Probleme im Schulsystem der USA in den 1990er Jahren dazu geführt, dass die Autismus-Diagnosen rapide zugenommen hätten. Die Zunahme der Posttraumatischen Belastungsstörungen bei Kriegsveteranen könne zum Teil auch so gesehen werden, dass versucht wurde, die Herausforderungen der Reintegration ehemaliger Soldaten mit Medikamenten zu lösen. Eine kanadische Studie zeige, dass die Anzahl der ADHS-Diagnosen stark mit dem Geburtsmonat des Kindes variiere. Jungen, die im Dezember geboren wurden und somit die Klassenjüngsten waren, hatten ein doppelt so hohes Risiko für eine ADHS-Diagnose wie die ältesten Jungen der Klasse, die im Januar geboren worden waren.
DSM-V und die Freiheit zur Innovation
Bei der Entwicklung des DSM-V sei nun die Freiheit zur Innovation ausgerufen worden. Dadurch seien auch sehr unzureichend erforschte psychische Symptombilder als eigene Erkrankung in das Diagnosesystem aufgenommen worden. Zeitweilig sei sogar vorgesehen gewesen, schon das Risiko für eine psychotische Erkrankung als eigene Diagnosekategorie aufzunehmen, mit der Gefahr, auch zahlreiche Personen als krank zu bezeichnen und möglicherweise medikamentös zu behandeln, die nie erkrankt wären. Insgesamt habe sich mit dem DSM-V eine grundsätzliche Abwägung verschoben. Das DSM-V lege seine Priorität darauf, psychische Erkrankungen nicht zu übersehen, letztlich aus der positiven Intention heraus, allen Betroffenen Hilfe und Behandlung anbieten zu können. Hierbei werde jedoch das Risiko von Überdiagnostik und Übertherapie sowie die damit verbundenen Risiken, von Stigmatisierung bis hin zu schädlichen Nebenwirkungen durch die Therapie, unterschätzt. Das Diagnosehandbuch DSM hätte aus seiner Sicht vor allem so weiterentwickelt werden müssen, dass es weniger Spielraum für eine missbräuchliche, interessengeleitete Anwendung lässt. Besser wären engere diagnostische Kategorien und höhere diagnostische Schwellen gewesen. Zu den größten Fehlentwicklungen im DSM-V zählen nach der Einschätzung von Prof. Allen Frances:
I. die neue, wenig erforschte Diagnose „Disruptive Mood Dysregulation Disorder“ (DMDD) bei Kindern und Jugendlichen, mit der schwere Wutausbrüche erfasst werden sollen;
II. die Absenkung des Zeitraums, in dem bei Trauernden keine Depression diagnostiziert werden soll (von zwei Monaten auf zwei Wochen nach dem Verlust);
III. die neue Diagnose der leichten neurokognitiven Störung, unter die auch die normale Altersvergesslichkeit gefasst werden könne;
IV. die Absenkung der diagnostischen Kriterien für ADHS;
V. die Aufnahme der Binge-Eating-Störung mit einer niedrigeren diagnostischen Schwelle als in der vorherigen Forschungskategorie;
VI. die Aufnahme der Kategorie der Verhaltenssüchte, unter der neben dem pathologischen Glücksspiel künftig auch andere ausgeprägte Verhaltensweisen als Erkrankung definiert werden könnten, wie z. B. Internetsucht oder Sexsucht;
VII. die Aufgabe der Differenzierung zwischen schweren Substanzabhängigkeiten und Personen mit einem Substanzmissbrauch, dessen Diagnose stark von den jeweiligen gesellschaftlichen Normen abhängig sei;
VIII. die Aufnahme der somatischen Symptomstörung als neue Diagnose, unter der viele Patienten mit körperlichen Erkrankungen künftig als psychisch krank gefasst werden könnten.
Auch wenn er skeptisch sei, ob der Trend des DSM-V zur Pathologisierung normalen psychischen Erlebens umgekehrt werden könne, ermutige ihn die Resonanz, die seine Kritik in der Presse und Öffentlichkeit u. a. in Deutschland erhalten habe. Die Erfolge gegen die Tabakindustrie seien ein Mut machendes Beispiel dafür, dass auch einflussreiche Lobbygruppen in ihre Schranken gewiesen werden können, wenn sich die öffentliche Wahrnehmung eines Themas ändere und öffentlicher Druck entstehe.
BPtK: Konservative Grenzziehung bedeutsam
Prof. Dr. Rainer Richter, Präsident der BPtK, betonte in der anschließenden Podiumsdiskussion, dass das Verständnis psychischer Erkrankungen abhängig sei vom jeweiligen historischen gesellschaftlichen Kontext. So müsse auch bei der aktuellen Neufassung des DSM der dominierende Kontext der US-amerikanischen Gesellschaft kritisch reflektiert werden, bevor sie auf das in Deutschland gültige ICD-Klassifikationssystem übertragen werde, das bis 2015 überarbeitet werden soll. Insofern sei die aktuelle kritische Debatte um das DSM-V, wie sie von Allen Frances angestoßen worden sei, sehr wichtig und beginne zum rechten Zeitpunkt.
Eine konservative Grenzziehung zwischen psychischer Erkrankung und Gesundheit sei bedeutsam, auch um die Menschen in ihren Fähigkeiten und Ressourcen zu bestärken, selbst erfolgreich mit den Herausforderungen des Lebens und den damit einhergehenden psychischen Belastungen fertig zu werden. Ein gestuftes diagnostisches Vorgehen und gestufte Versorgungsangebote könnten sinnvolle Ansätze sein, Ratsuchenden und Patienten nicht nur ein bedarfsgerechtes, sondern auch ein bedürfnisgerechtes Angebot im Sinne der Sozialpsychiatrie zu machen. Dabei müsse ein besonderes Augenmerk darauf gerichtet werden, dass nicht gesellschaftliche Probleme und Fehlentwicklungen im Schulsystem und in der Arbeitswelt als behandlungsbedürftig klassifiziert würden, für die Medikamente notwendig sind.
Kinder und Jugendliche: Reifungskrisen nicht pathologisieren
Bei ADHS sei auch in Deutschland von einer deutlichen Überdiagnostik und Übertherapie auszugehen, stellte BPtK-Präsident Richter fest. So erhalte nach den Daten von BARMER GEK in Deutschland knapp jeder fünfte Junge zwischen dem siebten und zwölften Lebensjahr eine ADHS-Diagnose und circa jeder zehnte Junge bekomme im Laufe der Kindheit und Jugend mindestens einmal Methylphenidat verordnet. Das DSM-V sehe eine weitere Aufweichung der diagnostischen Kriterien für ADHS vor. Zukünftig müssten motorische Unruhe und mangelnde Konzentrationsfähigkeit erstmalig vor dem zwölften Lebensjahr aufgetreten sein, damit ADHS diagnostiziert werden könne. Bisher lag die Grenze beim siebten Lebensjahr, um ausschließen zu können, dass auch Kinder und Jugendliche erfasst werden, die in erster Linie spezifische, schulische oder berufliche Probleme haben. Durch die neue, höhere Altersgrenze im DSM-V werde sich die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, aber auch der Erwachsenen, die nun auch eine ADHS-Diagnose erhalten können, erheblich erhöhen, so BPtK-Präsident Richter.
Auch die neue Diagnose „Disruptive Mood Dysregulation Disorder“ sei kritisch zu bewerten. Hierbei handele es sich um einen hilflosen Versuch, die US-spezifische Überdiagnostik von bipolaren Störungen bei Kindern in den Griff zu bekommen. Dieses Phänomen der Überdiagnostik bipolarer Störungen und der damit verbundenen Übertherapie mit Psychopharmaka bei Kindern habe es in Deutschland glücklicherweise nicht gegeben. Würde die neue Erkrankung aber in das geplante ICD-11 übernommen, bestehe die Gefahr, dass künftig auch in Deutschland alterstypische Wutausbrüche von Kindern und Jugendlichen als psychische Krankheit diagnostiziert und entsprechend behandelt werden könnten. Grundsätzlich sei die Forschung zu überdurchschnittlich häufigen und starken Wutausbrüchen vor allem bei Jungen viel zu dürftig, um damit eine neue psychische Erkrankung zu begründen. Das Risiko sei groß, dass künftig heftige emotionale Reaktionen von Kindern und Jugendlichen in Reifungskrisen als krank abgestempelt würden. Dabei drohten dann andere Gründe für wiederholte Temperamentsausbrüche wie Konflikte mit Eltern, Lehrern oder Gleichaltrigen aus dem Blick zu geraten.
Kritisch sei auch, dass das Trauer nach dem Verlust einer nahestehenden Person künftig bereits nach zwei Wochen als Krankheit eingestuft werden könne. Wer intensiv trauere, leide zwar häufig an Beschwerden, die auch bei einer Depression auftreten und erfülle wohl auch einmal formal die Kriterien einer Depression, weise aber deswegen noch keine behandlungsbedürftige Erkrankung auf, betonte der BPtK-Präsident. Die meisten Trauernden verkrafteten ohne Behandlung den Verlust einer geliebten Person. Der Schmerz von Trauernden könne durchaus Monate oder über ein Jahr dauern und sollte nicht als behandlungsbedürftig gelten. Trauernde sollten sich vielmehr der sozialen Unterstützung sicher sein dürfen. Die Maxime des steten Funktionierens führe schon jetzt dazu, dass sich die Einstellung der Gesellschaft zu Tod und Trauer verändere und Toleranz und Verständnis für schmerzhafte Gefühle sowie der Ausdruck von Verlust und Belastung weiter abnehmen.
Die berechtigte Kritik am DSM-V könne allerdings nicht Eins-zu-eins auf Deutschland übertragen werden, so Richter, ein Beispiel sei der Einfluss der Pharmaindustrie auf die Behandlung psychischer Erkrankungen. So würden psychische Diagnosen in den USA meist von Hausärzten gestellt und führten fast immer zu einer Verschreibung von Psychopharmaka. In Deutschland sei dagegen in erheblich größerem Umfang eine leitlinienorientierte psychotherapeutische Behandlung von psychischen Erkrankungen zumindest möglich, wenngleich auch hier zu oft Psychopharmaka verschrieben würden. Der Zugang zur und der Umfang der kassenfinanzierten Psychotherapie sei jedoch erheblich besser als in den USA.
Psychische Erkrankungen alltäglich
In der Diskussion solle aber auch nicht übersehen werden, dass psychische Erkrankungen alltäglicher seien, als sich die meisten Menschen klar machen, erklärte BPtK-Präsident Richter. Psychisch Kranke fänden sich fast in jeder Familie oder an jedem Arbeitsplatz. Seelische Leiden gehörten zu den Volkskrankheiten. Die deutsche Psychotherapeutenschaft setzte sich deshalb sehr dafür ein, dass psychisch kranke Menschen eine genauso schnelle und gute Versorgung erhalten wie körperlich kranke Menschen. Eine Debatte um die Schärfe diagnostischer Kriterien und die Risiken von Überdiagnostik und Überversorgung sei deshalb sehr wichtig. Die Auseinandersetzung um eine möglichst genaue Beschreibung psychischer Leiden dürfe dabei nicht über die Häufigkeit psychischer Erkrankungen hinwegtäuschen. Das alltägliche Leid psychisch kranker Menschen und ihr monatelanges Warten auf einen Behandlungsplatz seien real und kein Ergebnis einer Pathologisierung von Gesunden. Auch solle nicht übersehen werden, dass die Diagnostik psychischer Erkrankungen wissenschaftlich intensiv untersucht wurde und gerade auch im Vergleich zu körperlichen Erkrankungen grundsätzlich sehr verlässliche Ergebnisse liefere.
Nach Einschätzung von Prof. Dr. Ulrich Stangier, Universität Frankfurt, sei das Fach der Klinischen Psychologie und Psychotherapie von der sich verstärkenden Tendenz zur Überdiagnostik und Übertherapie, die mit dem DSM-V einhergehen könnte, nur begrenzt tangiert. Da den Psychotherapeuten bei den Arzneimittelverordnungen nur eine mittelbare Rolle zukomme, seien diese entsprechend auch nicht im Fokus der Pharmavertreter, wie dies bei den ärztlichen Kollegen der Fall sei. Gleichwohl hätten sie eine gesellschaftliche Verantwortung in dieser Diskussion und müssten auf die bestehenden Fehlentwicklungen hinweisen.
Prof. Dr. Wolfgang Hiller, Universität Mainz, wies darauf hin, dass das DSM-V im Vorfeld viele Hoffnungen und Erwartungen geweckt habe, die letztlich nicht erfüllt werden konnten. Dies gelte sowohl für die geplante stärker dimensionale Orientierung der diagnostischen Kategorien als auch für die ursprünglich geplante stärkere ätiologische Begründung der Diagnosen. Für das Fach sei es jedoch erfreulich, dass sich wieder ein stärkeres Interesse an diagnostischen Fragestellungen entwickle und eine kritische Diskussion über die Validität diagnostischer Kriterien und Schwellen geführt werde. Eine neue Entwicklung sei überdies, dass mittlerweile auch die Patienten bzw. Eltern eine aktivere Rolle bei der Vergabe von Diagnosen und Verordnung von Pharmakotherapien spielten und diese teilweise massiv einforderten. Hierbei spiele die Entlastung der Betroffenen aufgrund einer externen bzw. krankheitsbezogenen Ursachenzuschreibung von Problemen ebenso eine Rolle wie die damit verbundene Identifikation, Benennung und Erklärung der persönlichen Problematik. Beispielhaft seinen hier Diagnosen wie „Burnout“, „Erschöpfungssyndrom“ oder auch ADHS.
Alfred Krieger, Präsident der Psychotherapeutenkammer Hessen, warnte in diesem Zusammenhang vor einer Bagatellisierung von Burnout als Modediagnose. Die steigende Häufigkeit von Burnout solle weder skandalisiert noch Erschöpfungssymptome zwingend als eigene Krankheit betrachtet werden.
Einseitige Zusammensetzung der Expertengruppen beim DSM-V
Prof. Dr. Winfried Rief, Universität Marburg, kritisierte die einseitige Zusammensetzung der einzelnen Arbeitsgruppen bei der Neufassung des DSM-V. So seien die Arbeitsgruppen und die koordinierende Leitungsgruppe („Taskforce“) ganz überwiegend mit US-Psychiatern besetzt gewesen. Kritiker der bestehenden Überversorgung hätten dagegen ebenso gefehlt wie generalistische Experten für diagnostische Klassifikation und solche für normale psychische Funktionen. Die Arbeitsgruppen seien geprägt worden von Experten mit sehr krankheitsspezifischen Forschungsschwerpunkten, denen vielfach der Blick für die Folgen von Überdiagnostik und -therapie fehlte. Angesichts der Ergebnisse der Placeboforschung sei deutlich, dass gerade bei psychischen Erkrankungen mit leichten bis mittleren Beeinträchtigungen nur ein kleiner Teil der Patienten von einer Pharmakotherapie substanziell profitiere. Der natürliche Verlauf, unterstützt durch Information und Beratung, sei für manche dieser Patienten das Beste. Darüber hinaus brauche es für diese Patientengruppe mehr Kurzzeittherapien, die von einer fortlaufenden Diagnostik, psychotherapeutischen Kurzinterventionen und dem Prinzip des beobachtenden Abwartens geprägt seien. Das hippokratische Prinzip des „Primum non nocere“ („Zuerst einmal nicht schaden“) sollte hier in der Versorgung stärker verankert werden.
Prof. Richter verwies in diesem Zusammenhang auf die Empfehlungen der Leitlinie „Unipolare Depression bei leichten depressiven Störungen“, die genau dieses Vorgehen forderte. Erst wenn sich über zwei Wochen keine Besserung zeigt, sollten intensive Behandlungen in Betracht gezogen werden. In der ambulanten Psychotherapie böten dabei gerade auch die probatorischen Sitzungen eine Chance für eine gestufte Diagnostik, die vermehrt genutzt werden sollte.
Diskussionsteilnehmer aus dem Publikum forderten hierzu, dass vereinzelt bestehende Modelle, bei denen Patienten mit akuten Belastungen oder Erkrankungsrisiken auch ohne Kodierung einer psychischen Diagnose versorgt werden können, z. B. in Verträgen zur Versorgung von Kindern psychisch kranker Eltern, mehr Verbreitung finden sollten. Gerade bei jungen Menschen sollten die Risiken minimiert werden, dass verfrüht gestellte psychische Diagnosen in den Patientenakten mitgeschleppt würden, auch wenn die eigentliche Symptomatik schon lange abgeklungen ist.
Veröffentlicht am 30. Mai 2013