ADHS-Behandlung: Ritalin & Co nur noch zweite Wahl
Neue Vorschriften für die Verordnung von Methylphenidat
Bei der Behandlung von ADHS-Kindern darf nicht mehr zuerst ein Medikament mit dem Wirkstoff Methylphenidat verordnet werden. Das hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) am 16. September beschlossen. Danach ist es unzulässig, Kinder, die an einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) erkrankt sind, sofort medikamentös zu behandeln.
"Was alle Experten schon lange wissen und fordern, ist jetzt auch per Richtlinie festgelegt: ADHS-Kinder brauchen Spezialisten für Verhaltensstörungen, damit eine Behandlung erfolgreich ist", stellt Peter Lehndorfer, Vorstand der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), fest. "Der G-BA hat damit der fahrlässigen Verordnung von Ritalin & Co einen Riegel vorgeschoben."
Die Diagnose und Behandlung von ADHS bei Kindern und Jugendlichen weist seit Jahren gravierende Mängel auf. "ADHS wird vorschnell diagnostiziert und einseitig medikamentös behandelt", kritisiert BPtK-Vorstand Lehndorfer. Von 1997 bis 2006 stieg die Menge der verordneten Tagesdosen um das zehnfache. Jetzt hat der G-BA die Kriterien für eine bessere Diagnose und Behandlung festgelegt. Die geänderte Arzneimittel-Richtlinie schreibt jetzt vor, dass
- eine Behandlung von ADHS ohne Medikamente beginnen muss,
- Methylphenidat erst dann eingesetzt werden darf, wenn die nicht-medikamentöse Behandlung nicht erfolgreich ist,
- Methylphenidat auch dann nur innerhalb einer therapeutischen multimodalen Gesamtstrategie eingesetzt werden darf, die neben pharmakologischen Maßnahmen insbesondere auch psychologische, pädagogische und soziale Therapiekonzepte nutzt,
- die Behandlung unter Aufsicht eines Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern durchgeführt werden muss,
- der medikamentöse Einsatz besonders zu dokumentieren ist, insbesondere bei einer Dauertherapie über zwölf Monate,
- mindestens einmal jährlich die medikamentöse Behandlung unterbrochen und neu beurteilt werden muss,
- die ADHS-Diagnose auf Kriterien der DSM-IV oder der ICD-10-Klassifikation beruhen muss.
"ADHS ist damit keine Domäne der Arzneimitteltherapie mehr", fasst Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Peter Lehndorfer die neuen Vorschriften zusammen, nach denen Methylphenidat verschrieben werden darf. "Bei der Diagnose von ADHS reicht es nicht mehr, ein oder zwei Symptome festzustellen und dann zum Rezeptblock zu greifen. Nutzen und Risiken einer medikamentösen Behandlung müssen jetzt sehr viel sorgfältiger beachtet werden." Als Nebenwirkungen von Methylphenidat treten auf: Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, emotionale Labilität ("Weinerlichkeit") und langfristig ein geringeres Körperwachstum. "Nun besteht allerdings die Gefahr, dass auf andere Wirkstoffe, insbesondere Atomoxetin ("Stratera"), umgestiegen wird", warnt BPtK-Vorstand Lehndorfer. "Dabei hat der Hersteller selbst schon auf ein erhöhtes Suizidrisiko bei der Einnahme von Atomoxetin hingewiesen."
ADHS ist eine der häufigsten Verhaltensstörungen im Kinderalter. ADHS wird derzeit bei rund fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland diagnostiziert (KiGGS, 2007). Viele Auffälligkeiten von ADHS-Kindern lassen sich bis ins Säuglings- und Kleinkindalter zurückverfolgen. Viele hatten bereits im frühesten Alter Ess- oder Schlafprobleme ("Schreibabys"). Ernste Schwierigkeiten tauchen jedoch meist erst mit der Einschulung auf, weil sich die Kinder kürzer als andere konzentrieren und sich leichter ablenken lassen. Jüngste US-amerikanische Studien weisen jedoch darauf hin, dass vor allem die jüngeren Kinder in einer Klasse eine ADHS-Diagnose erhalten. "Kinder entwickeln sich sehr unterschiedlich", betont BPtK-Vorstand Lehndorfer. "Jüngere Kinder sind selbstverständlich unruhiger als ihre älteren Klassenkameraden. Sie dürfen deshalb nicht als krank diagnostiziert werden." Liegt jedoch ADHS vor, reicht eine einseitige medikamentöse Behandlung nicht aus. Leitlinien (z. B. NICE Clinical Guideline, 2009) empfehlen eine multimodale ADHS-Therapie. Diese umfasst
- Aufklärung und Beratung der Eltern, des Kindes oder Jugendlichen und der Erzieher bzw. Lehrer,
- Elterntraining und Familientherapie,
- Interventionen im Kindergarten oder in der Schule,
- Psychotherapie des Kindes oder Jugendlichen,
- Pharmakotherapie unter sorgfältiger Abwägung des Nutzens und der Risiken.
"Nun sollte die Chance genutzt werden, bei der Diagnostik und Behandlung der ADHS stärker auf die Kompetenzen von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten zurückzugreifen", empfiehlt Lehndorfer. "Die Kooperation zwischen Kinderärzten und Psychotherapeuten sollte deutlich intensiviert werden, damit die Schwere der Symptomatik von unruhigen Kindern richtig eingeschätzt wird und auch im Falle einer medikamentösen Mitbehandlung die Expertise der Psychotherapeuten bei der Beurteilung des Krankheitsverlaufs einfließt."
Der G-BA folgt mit der Änderung der Verordnungsfähigkeit von Methylphenidat-haltigen Arzneimitteln in der Arzneimittelrichtlinie einer Entscheidung der Europäischen Kommission vom 27. Mai 2009 und der Zulassungseinschränkung durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) mit Wirkung zum 1. September 2009.
Downloads
- Pressemitteilung der BPtK0
- Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie: Anlage III Nummer 44 - Stimulantien0
- Tragende Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Änderung der Arzneimittel-Richtlinie: Anlage III Nummer 44 - Stimulantien0
- Zusammenfassende Dokumentation zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie: Anlage III Nummer 44 - Stimulantien
0.9 MB
Veröffentlicht am 24. September 2010