Diotima-Ehrenpreis 2012 für Prof. Dr. Dietmar Schulte
Wissenschaft als Grundlage der Psychotherapie
Am 11. Mai 2012 hat die deutsche Psychotherapeutenschaft zum vierten Mal den Diotima-Ehrenpreis verliehen. Der diesjährige Preisträger ist der renommierte Psychotherapieforscher und langjährige Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie Prof. Dr. Dietmar Schulte. Mit dem Diotima-Ehrenpreis wurde Prof. Dr. Schulte für seine herausragenden Verdienste um die wissenschaftliche Fundierung der Psychotherapie und sein über vierzigjähriges berufspolitisches Engagement für den Psychotherapeutenberuf ausgezeichnet. Der Preis wurde im Rahmen des 20. Deutschen Psychotherapeutentages bei einer Festveranstaltung vergeben.
In seiner Begrüßung erinnerte der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) Prof. Dr. Rainer Richter an das Symposium der BPtK zum Thema „Perspektiven der evidenzbasierten Psychotherapie im deutschen Gesundheitswesen“ im Jahr 2005. Seinerzeit habe der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) eine neue Verfahrensordnung beschlossen, das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) sei gegründet und die Zulassung der Gesprächspsychotherapie zur gesetzlichen Krankenversicherung geprüft worden. Dies hätte zu einer intensiven und kritischen Debatte um die Anwendung der Methoden der evidenzbasierten Medizin auf die Bewertung von psychotherapeutischen Verfahren und Methoden geführt. Manche der Befürchtungen hätten sich durchaus bewahrheitet, wie z. B. im Falle der negativen Bewertung der Gesprächspsychotherapie durch den G-BA. Umgekehrt seien aber auch die Chancen deutlich geworden. Beispiele hierfür seien die Entwicklung der Nationalen Versorgungsleitlinie „Unipolare Depression“, das Bewertungsverfahren des G-BA zur Neuropsychologischen Therapie oder auch die Studien zur psychotherapeutischen Behandlung der Schizophrenie, die jüngst die BPtK veranlasst hätten, eine Überarbeitung der Indikationsbeschreibung in der Psychotherapie-Richtlinie anzuregen.
Prof. Dr. Jürgen Margraf erläuterte im Hauptvortrag, dass Psychotherapie als wissenschaftlich begründetes Handeln auf den Standbeinen der Alltags- und der Berufserfahrung sowie der Wissenschaft beruhe. Anhand von Forschungsarbeiten u. a. von Prof. Schulte illustrierte er, dass auch Psychotherapeuten in ihren Therapieentscheidungen den allgemeinen Mechanismen der Urteilsbildung unterliegen, einschließlich der typischen Verzerrungen und Selektionsprozesse. So messen Psychotherapeuten einzelnen Erfahrungen tendenziell ein größeres Gewicht bei als den aggregierten Informationen aus systematischen Reviews. Die Vorhersage von Therapieerfolgen durch Psychotherapeuten weise ferner nur einen geringen Zusammenhang mit dem späteren tatsächlichen Therapieerfolg auf. Die Erfolgsprognose scheine dagegen stärker von der aktuellen Stimmung des Psychotherapeuten abhängig zu sein. Auch führe die Individualisierung einer Behandlung durch den Psychotherapeuten im Vergleich zu einer standardisierten Psychotherapie nicht unbedingt zu einem besseren Behandlungsergebnis, wie Prof. Schulte in einer viel zitierten Arbeit von 1992 am Beispiel der Angststörungen habe zeigen können. Nach seiner Einschätzung bestehe in der Psychotherapie sowohl bei diagnostischen als auch therapeutischen Entscheidungen die Gefahr, die individuellen Erfahrungen des Klinikers überzubetonen. Es sei daher wichtig, dass Kliniker, aber auch Wissenschaftler die möglichen Verzerrungen bei der Urteilsbildung reflektieren und diesen entgegensteuern. In seinem Ausblick plädierte Prof. Margraf für ein Leitbild des Scientist-Practitioner, bei dem Praxis und Forschung nicht als Gegensätze, sondern als sich gegenseitig befruchtende und korrigierende Bereiche verstanden werden.
BPtK-Präsident Prof. Dr. Rainer Richter würdigte in seiner Laudatio Prof. Schulte als einen visionären Forscher und Kliniker, der schon frühzeitig vor dem Hintergrund eines sich entwickelnden wissenschaftlichen Heilverfahrens die Notwendigkeiten und die konkreten Perspektiven einer Professionalisierung der Psychotherapie erkannt habe. Er habe nicht nur wesentlich zur evidenzbasierten Basis der Psychotherapie beigetragen, sondern habe sich auch immer dafür engagiert, Wissenschaft und Praxis eng miteinander zu verknüpfen. Beispielhaft bezog sich Prof. Richter hierbei auf das Engagement Prof. Schultes für die Einrichtung von Hochschulambulanzen an den psychologischen Universitätsinstituten, die heute eine unverzichtbare Grundlage für die klinische Forschung und Lehre an den psychologischen Instituten darstellen würden. Von herausragender Bedeutung sei Prof. Schultes jahrzehntelanger Einsatz für ein Psychotherapeutengesetz gewesen, das er bereits zu Beginn der 70er-Jahre eingefordert und in seiner dreißigjährigen Geschichte maßgeblich mitgestaltet und vorangetrieben habe. Auch nach der Verabschiedung des Psychotherapeutengesetzes im Jahr 1998 habe er sich unvermindert für die Weiterentwicklung der psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildungsstrukturen eingesetzt, sei es als Mitglied und langjähriger Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie oder als Mitglied der Weiterbildungskommission der Bundespsychotherapeutenkammer, welche die 2006 verabschiedete Musterweiterbildungsordnung der BPtK erarbeitet hat.
Prof. Dr. Schulte betonte in seiner Dankesrede die Relevanz der wissenschaftlichen Fundierung und der wissenschaftlich überprüften Regeln für die Praxis der Psychotherapie. Mit Blick auf die Entwicklungen in der empirischen Psychotherapieforschung konstatierte Prof. Schulte, dass der Prozess der Überwindung der Therapieschulen schon seit längerem begonnen habe. Die Entwicklung hin zu störungsspezifischen Therapieansätzen habe hierbei eine wichtige Rolle gespielt. So würden häufig bei der wissenschaftlichen Entwicklung störungsspezifischer Therapiemanuale Methoden und Techniken aus unterschiedlichen Psychotherapieverfahren und unabhängig von ihrer zugehörigen theoretischen Tradition, kombiniert und empirisch überprüft. Diese lieferten dabei nicht nur die therapeutischen Handlungsempfehlungen, sondern auch die entsprechenden Indikationskriterien.
In seinen abschließenden Betrachtungen zur aktuell diskutierten Reform der Psychotherapeutenausbildung warb Prof. Schulte dafür, die Chancen zu nutzen, die bestehenden ordnungspolitischen Brüche und unbefriedigenden Regelungen des Psychotherapeutengesetzes analog den anderen akademischen Heilberufen zu korrigieren.
Downloads
Veröffentlicht am 23. Mai 2012