Früher und intensiver
BPtK-Veranstaltung „Therapeutische Ausrichtung von Strafvollzug und Sicherungsverwahrung“
Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 17. Dezember 2009 sowie vom 13. Januar 2011 und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 4. Mai 2011 hatten den Gesetzgeber verpflichtet, die Regelungen zur Sicherungsverwahrung zu reformieren. Die Gerichte hatten insbesondere ein freiheitsorientiertes und therapiegerichtetes Gesamtkonzept angemahnt. Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) lud deshalb am 17. Oktober 2012 in Berlin zu der Veranstaltung „Therapeutische Ausrichtung von Strafvollzug und Sicherungsverwahrung“ ein, um die Auswirkungen des „Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung“ zu diskutieren, das am 14. Juni 2012 in erster Lesung im Deutschen Bundestag beraten worden war und nach dem BPtK-Symposium am 8. November 2012 beschlossen wurde.
BPtK-Vizepräsident Dr. Dietrich Munz betonte in seiner Begrüßung die besondere Relevanz der jüngsten Gesetzgebung im Recht der Sicherungsverwahrung für das Verständnis psychischer Erkrankungen im Strafrecht. Beim Therapieunterbringungsgesetz als „Übergangsrecht“ habe der Gesetzgeber über den Rückgriff auf den nicht näher bestimmten Begriff der psychischen Störung eine neue Zielgruppe geschaffen, die durch eine psychische Störung und einer damit verbundenen Gefährlichkeit definiert werde. Es fehle hierbei die notwendige Verbindung zwischen psychischer Störung und Steuerungsfähigkeit des Straftäters. Gefährlichkeit und Kriminalität von Straftätern könnte daher in verkürzender Weise auf psychische Gestörtheit zurückgeführt werden, um damit den rechtlichen Rahmen für die weitere Verwahrung von gefährlichen Straftätern zu konstruieren. Im aktuellen Gesetzgebungsverfahren bestehe die Gefahr, dass auf Initiative der Bundesländer dieses verkürzte Verständnis der psychischen Störung im Kontext der neuen Maßregel der nachträglichen Therapieunterbringung weiter festgeschrieben werde.
Moderator Gerd Hoehner vom Landschaftsverband Rheinland, Fachbereich Maßregelvollzug, wies eingangs darauf hin, dass viele inhaftierte schwere Gewalt- und Sexualstraftäter psychische Probleme oder Erkrankungen haben, die psychotherapeutisch behandlungsbedürftig seien und die unbehandelt mit großer Wahrscheinlichkeit zum Scheitern der Wiedereingliederung in die Gesellschaft führen. Diese Erkenntnis hätte bei der großen Strafrechtsreform in den 1970er Jahren zum Auf- und Ausbau der Sozialtherapeutischen Anstalten (SothA) geführt, die auch im aktuellen Gesetzentwurf in besonderer Weise als geeignete Einrichtung für Straftäter mit angeordneter oder vorbehaltener Sicherungsverwahrung betrachtet würden. Seit 1990 habe sich die Anzahl der Plätze in den SothAen auf 2.300 Plätze und damit auf vier Prozent aller Haftplätze im Strafvollzug verdoppelt. Gleichzeitig seien die Unterbringungen im Maßregelvollzug in Deutschland um das knapp Dreifache auf nunmehr 10.000 Personen gestiegen. Auch die Sicherungsverwahrung befinde sich mit rund 550 Fällen auf dem Höchststand. Dies spreche für eine zunehmende therapeutische Ausrichtung der freiheitsentziehenden Maßnahmen. Zugleich gebe es aber eine deutlich verringerte Bereitschaft der Bevölkerung, unvermeidliche Restrisiken nach der Entlassung von Straftätern zu akzeptieren. Ein Beleg hierfür sei z. B. die steigende Unterbringungsdauer, die im Maßregelvollzug nach § 63 StGB mittlerweile bei durchschnittlich sieben Jahren liege.
Was bedeutet psychische Störung?
Hoehner kritisierte das Therapieunterbringungsgesetz (ThUG) vom 22. Dezember 2010, das eine Reaktion des deutschen Gesetzgebers auf die Entscheidung des EGMR vom 17. Dezember 2009 gewesen war. Das Gesetz regelt die Unterbringung von verurteilten Straftätern, die nach der Entscheidung des EGMR deshalb nicht länger in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden dürfen, weil diese Verwahrung rückwirkend verlängert wurde. Hoehner rügte, dass das ThUG das gängige fachliche Verständnis des Begriffs der psychischen Störung außer Kraft setze, der bisher zu einer Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik oder Entziehungsanstalt des Maßregelvollzugs geführt habe. Die Sicherungsverwahrung habe vorher einzig an die anhaltende Gefährlichkeit des Straftäters für die Allgemeinheit und nicht an eine der Gefährlichkeit zugrundeliegende psychische Störung angeknüpft.
Bei einem psychisch kranken oder suchtkranken Straftäter, der aufgrund einer richterlicher Anordnung im Maßregelvollzug untergebracht werde, gehe man von einer „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ (§ 20, 21 StGB) aus, die die Schuldfähigkeit erheblich mindere. Dieser Störungsbegriff orientiere sich an der in der psychiatrischen Krankheitslehre gebräuchlichen Definition einer Krankheit. Danach beeinträchtige die psychische Krankheit deutlich erkennbar die normalen psychischen Aktivitäten und Funktionen eines Individuums. Es werde deshalb von einer Krankheit gesprochen, weil die normale psychische Funktionalität erheblich beeinträchtigt sei. Ein Gericht, das dies feststelle, habe damit auch ein Kriterium für die Beurteilung, der Schuldfähigkeit eines Individuums. Dabei lasse sich ein Zusammenhang zwischen der Art und dem Ausmaß einer Störung und der Minderung der Steuerungsfähigkeit feststellen. Vereinfacht gelte: große Ursache – große Wirkung.
Das ThUG habe jetzt einen neuen Begriff der psychischen Störung eingeführt, um die weitere Unterbringung von verurteilten Straftätern zu regeln, deren Sicherungsverwahrung rückwirkend verlängert wurde. Das ThUG gehe davon aus, dass auch eine Störung minderen Ausmaßes, ggf. sogar unterhalb der Krankheitswertigkeit, eine erhebliche Gefährlichkeit des Individuums verursachen könne. Für Hoehner stellten sich deshalb mindestens zwei Fragen: „Gibt es überhaupt eine Störung, wie sie im ThUG definiert wird? Und wie kann eine Behandlung aussehen, wenn explizit überhaupt keine Krankheit vorliegt?“ Hoehner betonte, dass der Regelungsbereich des ThUG nach seiner Einschätzung sehr begrenzt sein werde, weil die gesetzliche Fallkonstellation in der Praxis kaum vorkommen dürfte. In Nordrhein-Westfalen gebe es zurzeit einen einzigen Fall, bei dem die Störung aber nichts mit der Anlasstat für die Sicherungsverwahrung zu tun habe. Deutschlandweit beschränke sich die Zahl der ThUG-Untergebrachten auf etwa zehn Personen, deren Unterbringung jeweils in demselben Bundesland richterlich angeordnet worden sei.
Nach seiner Einschätzung dürfe bei der Neuregelung der Sicherungsverwahrung die Lösung nicht in der Therapeutisierung dieser Maßregel liegen. Die untergebrachten Straftäter hätten zum Zeitpunkt ihrer Tat eben keine krankhafte Störung gehabt und müssten bzw. könnten deshalb auch nicht behandelt werden. Im Vollzug und in der Nachbetreuung dieser Personengruppe stünden sozialtherapeutische und pädagogische Maßnahmen einschließlich der beruflichen Qualifikation im Vordergrund. Auch wenn Untergebrachte durchaus auch einmal psychotherapeutische Hilfen benötigen könnten. So sei Resozialisierung bei dieser Straftätergruppe in erster Linie eine gesellschaftliche Aufgabe mit Mitteln der allgemeinen und spezifischen Förderung und keine vorrangig psychotherapeutische Aufgabe.
Abstandsgebot im Gesetzentwurf
Ministerialrat Dr. Bernd Bösert vom Bundesministerium der Justiz stellte den aktuellen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Sicherungsverwahrung vor. Er erläuterte, dass der EGMR in seinem Urteil vom 17. Dezember 2009 entschieden habe, dass einem Sicherungsverwahrten, der nach früherem Strafrecht mit höchstens zehn Jahre Verwahrung rechnen musste, seine Freiheit nicht nachträglich aufgrund einer Gesetzesänderung länger entzogen werden dürfe. Dies verstoße insbesondere gegen Artikel 7 (Keine Strafe ohne Gesetz) der Europäischen Menschenrechtskonvention. Entscheidend sei bei diesem Urteil die Auffassung des Gerichts gewesen, dass eine Sicherungsverwahrung aufgrund der bestehenden Vollzugspraxis als „Strafe“ anzusehen sei. Die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung unterscheide sich in der Praxis zu wenig von der einer Haftstrafe (Verletzung des Abstandsgebotes).
Der Gesetzgeber habe bereits während der laufenden Verfahren beim EGMR eine neue gesetzliche Regelung der Sicherungsverfahren geplant, die schließlich zusammen mit dem ThUG am 22. Dezember 2010 verabschiedet wurde. Dabei sei es um eine „Konsolidierung“ der primären Sicherungsverwahrung gegangen, insbesondere um eine engere Definition der Vor- und Anlasstaten. Danach können im Wesentlichen nur noch schwere Gewalt- und Sexualtaten eine Sicherungsverwahrung begründen. Zugleich seien die Möglichkeiten der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung für Neufälle ausgebaut worden, um den Wegfall der nachträglichen Sicherungsverwahrung zu „kompensieren“. Und schließlich sei eine Regelung für diejenigen Altfälle eingeführt worden, bei denen eine rückwirkende Verlängerung der Zehnjahresfrist angeordnet oder bei denen die Sicherungsverwahrung überhaupt erst nachträglich festgelegt wurde.
Das BVerfG habe daraufhin in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 sämtliche bisherigen Regelungen über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung als unvereinbar mit dem Grundgesetz bewertet. Dazu gehöre sowohl die rückwirkende Aufhebung der maximalen Frist der Sicherungsverwahrung als auch deren nachträgliche Anordnung. Dies sei mit dem Verstoß gegen das Abstandsgebot im Vollzug der Sicherungsverwahrung und bei den Regelungen der nachträglichen oder rückwirkenden Sicherungsverwahrung zusätzlich mit dem Verstoß gegen das Vertrauensschutzgebot begründet worden.
Das BVerfG habe weiter entschieden, dass das bisherige Recht bis zum 31. Mai 2013 weiter anwendbar bleibe, wenn zusätzliche Voraussetzungen vorliegen. Bei den Fällen, bei denen lediglich ein Verstoß gegen das Abstandsgebot bestehe, sei eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderlich. Die Sicherungsverwahrung könne nur bei jenen Personen fortgesetzt werden, bei denen eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten bestehe. Diese müsse sich aus den konkreten Umständen in der Person oder im Verhalten der Person ableiten lassen. Liege zusätzlich ein Verstoß gegen das Vertrauensschutzgebot vor, sei eine Fortführung der Sicherungsverwahrung nur rechtmäßig, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- und Sexualstraftaten bestehe, die aus den konkreten Umständen in der Person oder im Verhalten der Person abzuleiten sei und die in kausalem Zusammenhang mit einer „psychischen Störung“ im Sinne des ThUG stehe.
Für den Gesetzgeber sei daraus erstens der Auftrag erwachsen, unverzüglich die Fortdauer der Sicherungsverwahrung in den Vertrauensschutzfällen bis zum 31. Dezember 2011 zu überprüfen. Aktuell befänden sich von ehemals 530 Personen noch etwa 450 in Sicherungsverwahrung. Dabei seien insbesondere solche Personen entlassen worden, die aufgrund von Vermögensstraftaten in Sicherungsverwahrung gewesen waren oder die erhöhten Voraussetzungen nicht erfüllten.
Für den Gesetzgeber habe sich aus dem BVerfG-Urteil zweitens der Auftrag ergeben, bis zum 31. Mai 2013 ein freiheitsorientiertes und therapiegerichtetes Gesamtkonzept der Sicherungsverwahrung unter Beachtung von sieben „Geboten“ zu normieren, die im Urteil ausgeführt seien. Der Bundesgesetzgeber habe deshalb die wesentlichen Leitlinien für dieses Gesamtkonzept und damit auch für das Landesrecht vorgeben müssen. Die Landesgesetzgeber hätten aufgrund ihrer Gesetzgebungskompetenz im Bereich des Strafvollzugs den Auftrag erhalten, in den Vollzugsgesetzen das Abstandsgebot zu gewährleisten und effektive Regelungen für den Vollzug der Sicherungsverwahrung festzulegen, die in der Praxis nicht umgangen werden können.
Bösert führte aus, dass das deutsche Strafrecht bzw. die deutsche Rechtssprechung weniger strafend ausgerichtet sei als in anderen Ländern. Schon die Maßregel der Sicherungsverwahrung sei eine wesentliche, alternative Norm zu längeren Freiheitsstrafen, die jetzt auch von anderen Staaten eingeführt werde. Ein europäischer Vergleich der längeren Freiheitsstrafen zeige außerdem, dass in Deutschland deutlich weniger Gefangene mit längeren Freiheitsstrafen einsitzen als in anderen großen EU-Staaten. Während in Deutschland nur 2.890 Häftlinge mit Freiheitsstrafen von zehn und mehr Jahren bzw. lebenslänglich eingesperrt seien, seien es in Großbritannien 13.746, in Frankreich 8.458 und in Italien 7.317 Häftlinge.
Der vorliegende Gesetzentwurf sorge jetzt für eine konsequente Umsetzung der sieben Gebote des BVerfGs. Sicherungsverwahrung sei danach nur als letztes Mittel anzuordnen und zu vollstrecken („ultima ratio“-Gebot). Maßnahmen, die die Gefährlichkeit einer Person verringern, sollten schon im vorhergehenden Strafvollzug erfolgen und möglichst vor dem Ende der Haftstrafe abgeschlossen sein. Gerichte sollten engmaschig kontrollieren und prüfen, ob die Vollzugsanstalten die erforderlichen therapeutischen Angebote gewährt haben. Die gerichtliche Kontrolle diene neben der Optimierung der Angebote auch dazu, Überraschungsentscheidungen am Ende der Strafhaft zu vermeiden. Sonst könne der Fall eintreten, dass eine Anordnung der Sicherungsverwahrung gerichtlich aufgehoben werden müsse, weil im Strafvollzug nicht die erforderlichen Therapieangebote gewährt worden seien.
Das „Individualisierungsgebot“ besage, dass einem Sicherungsverwahrten individuelle und intensive Betreuungs- und Behandlungsprogramme angeboten werden müssen, erläuterte Bösert. Dazu gehörten ggf. auch individuell zugeschnittene Therapieangebote, falls bestehende Therapieprogramme nicht griffen. Spätestens zu Beginn des Vollzugs habe eine umfassende Behandlungsuntersuchung stattzufinden, auf deren Grundlage ein Vollzugsplan zu erstellen und regelmäßig fortzuschreiben sei.
Als drittes sei das „Motivierungsgebot“ zu nennen. Dem Sicherungsverwahrten müssten gezielt, ggf. unter Nutzung von Anreizsystemen, Betreuungs- und Behandlungsprogramme angeboten werden. Eine rein passive Bereitstellung sei nicht ausreichend, anderseits dürfe im Umkehrschluss allerdings auch nicht von einer unzureichenden Nutzung von Therapieangeboten auf eine unzureichende Motivationsarbeit geschlossen werden.
Das vierte Gebot, das „Trennungsgebot“, besage, dass die Sicherungsverwahrung sich äußerlich vom regulären Strafvollzug unterscheiden müsse. Die Unterbringung müsse an die allgemeinen Lebensverhältnisse angepasst werden, soweit dies mit der Sicherheitslage vereinbar sei. Eine vollständige räumliche Trennung außerhalb des Strafvollzugsareals sei dabei nicht zwingend, zumal dies unter fachlichen Gesichtspunkten ohnehin kritisch bewertet werde, so Bösert.
Das „Minimierungsgebot“ bedeute, dass einem Sicherungsverwahrten eine stärkere Lockerung des Vollzugs gewährt werden muss als einem Strafgefangenen, um ihn zu erproben und auf die Entlassung vorzubereiten.
Das „Rechtsschutz- und Unterstützungsgebot“ drücke aus, dass ein Sicherungsverwahrter Anspruch auf Maßnahmen habe, die seine Gefährlichkeit verringern, und auf einen Beistand, der ihm helfe, diese Rechte durchzusetzen. Die hierfür erforderlichen Änderungen würden in der Strafprozessordnung und in den Strafvollzugsgesetzen umgesetzt.
Das siebte und letzte „Gebot der Kontrolle“ meine, dass mindestens jährlich die Fortdauer der Sicherungsverwahrung zu überprüfen sei. Diese Überprüfung sei mit zunehmender Dauer des Vollzugs zu intensivieren, d. h. in kürzer werdenden Abständen vorzunehmen.
Nach derzeitigem Stand der Gesetzgebung besagten diese Regelungen, dass künftig für Neufälle, deren Anlasstaten nach dem 31. Mai 2013 liegen, die nachträgliche Sicherungsverwahrung auch im Jugendgerichtsgesetz wegfalle. Für die alten Vertrauensschutzfälle mit der letzten Anlasstat vor dem 1. Juni 2013 bleibe das bisherige Recht anwendbar bei Fortschreibung der Übergangsanordnung des BVerfG. Dabei seien die Vorschriften zum Abstandsgebot auch bei den Altfällen anzuwenden. Ferner sehe der Gesetzentwurf vor, dass der Vollzug der Therapieunterbringung grundsätzlich auch in den neuen Einrichtungen der Sicherungsverwahrung möglich sei.
Bösert berichtete, dass es auf den vorliegenden Gesetzentwurf eine weitestgehend positive Resonanz gegeben habe, insbesondere hinsichtlich der Umsetzung des Abstandsgebots. Der Hauptstreitpunkt betreffe die vom Bundesrat vorgeschlagene Einführung einer nachträglichen Unterbringungsmöglichkeit von Straftätern, die erst in der Haft und aufgrund einer psychischen Störung gefährlich geworden seien („nachträgliche Therapieunterbringung“). Da das Gesamtkonzept im Bundesgesetz und in den Ländergesetzen rechtzeitig zum 1. Juni 2013 in Kraft treten müsse, bestehe für das weitere Abstimmungsprozedere ein erheblicher Zeitdruck.
Abschließend ging Bösert noch auf die Kritik an der Möglichkeit ein, Straftäter mit angeordneter oder vorbehaltener Sicherungsverwahrung in Einrichtungen des Maßregelvollzugs zu überweisen. Diese Überweisungsmöglichkeit war insbesondere von Fachkreisen der Psychotherapie und Psychiatrie kritisiert worden. Auf der Basis der bisherigen Rechtslage seien zuletzt bundesweit innerhalb eines Jahres insgesamt 13 Sicherungsverwahrte in ein psychiatrisches Krankenhaus oder eine Entziehungsanstalt überwiesen worden, bei insgesamt 10.201 psychisch kranken oder suchtkranken Straftäter, die im Maßregelvollzug nach §§ 63 und 64 StGB untergebracht sind. Er gehe davon aus, dass auch bei einer Gesetzesreform die Zahlen relativ gering bleiben werden.
Moderne Konzepte der ambulanten und stationären Resozialisierung
Prof. Dr. Bernd Maelicke stellte moderne Konzepte der ambulanten und stationären Resozialisierung vor. Resozialisierung sei ein wichtiger Strafzweck und ziele auf die Wiedereingliederung von Straftätern in das gesellschaftliche Leben außerhalb des Gefängnisses. In gewisser Weise schulde der Strafvollzug nicht den Erfolg der Resozialisierung, der sich erst in der Zeit nach der Entlassung erweisen könne. Dann aber finde regelhaft keine systematische, abgestimmte Einflussnahme auf den Resozialisierungsprozess mehr statt. Im Strafvollzug werde ein hoher Input geleistet, aber der entscheidende Output im Sinne einer Befähigung zu einem Leben ohne Straftaten und einer niedrigen Rückfallrate werde von den vielfältigen Einflüssen nach Entlassung bestimmt. Im Bereich der Jugendhaft mit durchschnittlichen Haftstrafen von unter einem Jahr seien dabei ohnehin keine nachhaltigen Wirkungen erwartbar.
Die Resozialisierung in Deutschland zeichne sich durch ein stark versäultes System aus, bei dem viele unterschiedliche Einrichtungen und Professionen beteiligt seien, ohne dass es einen abgestimmten Prozess gebe. Resozialisierung müsse als eine Komplexleistung begriffen werden, bei der nicht ein Akteur alleine verantwortlich sein könne. Die Leistung sollte aber möglichst aus einer Hand organisiert werden, damit die Kooperation der an der Resozialisierung beteiligten Fachkräfte gelingen könne. Hierfür biete sich ein Case Management-Ansatz an, wobei das Übergangsmanagement nach dem Vollzug das A und O der Resozialisierung sei. So zeigten Studien, dass die Rückfallraten auf ein Drittel gesenkt werden können, wenn die berufliche Wiedereingliederung nach der Entlassung gelinge. Resozialisierung müsse als längerer Prozess über die Gefängnismauern hinaus verstanden und in einem eigenen Gesetz verankert werden. Angesichts der Häufigkeit von gewaltsamen Übergriffen in den Haftanstalten müsse man heute allerdings davon ausgehen, dass der derzeitige Strafvollzug eine Resozialisierung eher gefährde statt fördere.
Als zentrales Hindernis für eine integrierte Resozialisierung sehe er die bestehenden Finanzierungsstrukturen. Im Strafvollzug in Deutschland würden derzeit vier Milliarden Euro ausgegeben, wovon über 90 Prozent in den stationären Bereich flössen. Die freiwillige Strafgefangenenhilfe, welche die intensivierte soziale Integration nach Entlassung zur Aufgabe habe, sei dagegen am schlechtesten finanziell abgesichert. Dabei sei das Rückfallrisiko in den ersten Monaten nach Entlassung aus dem Strafvollzug besonders hoch. Deshalb müssten die Täter in dieser Phase eigentlich besonders intensiv betreut werden. Hierfür sei es jedoch entscheidend, dass es eine Gesamtverantwortung für den Resozialisierungsprozess gebe und alle relevanten Teilbereiche ausreichend finanziert werden. Mit der Förderalismusreform falle diese Aufgabe den Bundesländern zu.
Intensivbehandlung gefährlicher Gewalt- und Sexualstraftäter
Dr. Bernd Borchard von der Forensisch-Psychiatrischen Abteilung der Justizvollzugsanstalt Pöschwies (Schweiz) erläuterte den rechtlichen Rahmen für die Intensivbehandlung gefährlicher Gewalt- und Sexualstraftäter, der in der Schweiz seit der Strafrechtsrevision vom 1. Januar 2007 besteht. Nach Artikel 59 StGB könne ein Gericht bei einem psychisch gestörten Täter eine stationäre Behandlung anordnen, wenn dieser eine Straftat begangen habe, die mit einer psychischen Störung zusammen hänge und eine positive Behandlungsprognose (Verringerung des Rückfallrisikos) bestehe. Dabei sei es die Aufgabe der Kantone, geeignete Einrichtungen bereitzustellen. Die Behandlungen seien zunächst auf höchstens fünf Jahre befristet, wobei jährliche Überprüfungen vorgesehen seien, die aber bei entsprechender Prognose verlängert werden können.
Vor der Entscheidung für eine Intensivbehandlung erfolge stets eine Risiko- und Interventionsabklärung. Hierbei gehe es insbesondere darum zu prüfen, welches Rückfallrisiko in Zusammenhang mit einer psychischen Störung bestehe und ob der Täter als behandelbar eingeschätzt werde. In der Intensivbehandlung werde dann ein deliktorientierter Behandlungsansatz verfolgt. Ein vergleichbares Vorgehen werde nicht nur im Strafvollzug, sondern auch im Maßregelvollzug eingesetzt und stelle das Pflichtprogramm einer rückfallpräventiven Therapie dar.
Die Behandlung sei dabei nicht ein stringent durchzuarbeitendes Programm, sondern seine einzelnen Bausteine würden durch speziell qualifizierte Therapeuten und Behandlungsteams flexibel eingesetzt, wenn dafür der richtige Zeitpunkt gekommen sei. Dabei kämen insbesondere zwei Wirkansätze zum Tragen, zum einen die Arbeit an den deliktrelevanten Störungen und Problemen und zum anderen der Aufbau einer stabilen Handlungsschwelle und eines hinreichenden Risikomanagements. Ausgangspunkt sei stets die Entwicklung einer Delikthypothese, bei der auch der Täter die Auslöser und Gründe seiner Straftaten formuliere.
Die Behandlung beziehe dabei alle Berufsgruppen der Justizvollzugsanstalt mit ein und setze ein gemeinsames Fallverständnis aller beteiligten Berufsgruppen voraus. Dazu gehören Aufseher, Pflegekräfte, Sozialarbeiter sowie Psychiater und Psychologen mit psychotherapeutischer Qualifikation. Vor dem Hintergrund eines Personalschlüssels von 1:1 könne so eine hohe Kontakt- und Konfrontationsdichte in der Behandlung realisiert werden. Einen besonderen Vorteil des Züricher Konzepts sah Borchard darin, dass alle für den Vollzug relevanten Personen und Einrichtungen prinzipiell in einem Haus verortet seien. Dadurch seien z. B. ein schneller Wechsel in den Maßregelvollzug und eine psychiatrische Behandlung möglich und würde auch den fallverantwortlichen Juristen mit einschließen.
Erste Daten zur Wirksamkeit dieser stationären Intensivtherapie deuten darauf hin, dass die Rückfallraten nach deliktpräventiver Therapie mit behandelbaren Tätern unter fünf Prozent liege. Dabei sei zu berücksichtigen, dass derzeit Probleme bestünden, tatsächlich alle geeigneten, behandelten Täter entlassen zu können, da dies sehr restriktiv gehandhabt werde. Langfristig sehe er das Ziel, den Strafvollzug zu einem Präventionsvollzug umzubauen.
Ambulante forensische Nachsorge
In dem abschließenden Referat skizzierte die Leiterin der Forensisch-therapeutischen Ambulanz der Charité, Dr. Tatjana Voß, die Aufgabe der Nachsorge bei Gewalt- und Sexualstraftätern. Die Behandlung in der Ambulanz erfolge im Rahmen der Weisung zur Führungsaufsicht oder als Bewährungsauflage nach § 68b bzw. § 56c StGB. Rechtlich sei die Ambulanz der Bewährungshilfe gleichgestellt. Die Besonderheit dieser therapeutischen Arbeit sei ihre Doppelfunktion als Therapie und Kontrolle. Dabei sei die Kontrollfunktion auch mit einer Offenbarungspflicht anstelle der ärztlichen/psychotherapeutischen Schweigepflicht verbunden. Dies müsse den Patienten entsprechend klar gesagt werden.
Die Ambulanz verfüge über 100 Behandlungsplätze, wobei jeweils 50 Patienten aus dem Maßregelvollzug und dem Strafvollzug entstammen, einschließlich 20 aus der Sicherungsverwahrung entlassener Patienten. Bei einem Behandlungsschlüssel von 1:11 bestehe die Behandlung im Regelfall aus einer Einzeltherapiestunde pro Woche. Die inhaltlichen Schwerpunkte der Therapie variierten je nach Bedarf zwischen deliktorientierter Arbeit, unterstützenden Interventionen oder eher kontrollierenden Aufgaben. Daneben gebe es auch aufsuchende Arbeit, Kriseninterventionen, Pharmakotherapie sowie soziotherapeutische Angebote.
Der Behandlungs- und Unterstützungsbedarf bei Straftätern, die aus der Sicherungsverwahrung entlassen würden, sei sehr heterogen, so dass keine standardisierten Behandlungspläne zum Einsatz kämen. Zentrales Ziel der Behandlung sei neben den Überwachungsfunktionen und den laufenden Risikoeinschätzungen insbesondere, einen kontinuierlichen Informationsaustausch zwischen den beteiligten Einrichtungen und Berufsgruppen einschließlich Gerichte und Bewährungshilfe sicherzustellen. In diesem Sinne übernehme die Ambulanz auch eine Case-Managementfunktion. Eine aktuelle Studie von Dr. Klaus-Peter Dahle zur Evaluation der Ambulanz habe ergeben, dass die Rückfälle der in der Ambulanz betreuten Patienten im Vergleich zu einer Kontrollgruppe zwar tendenziell später, aber gleich oft aufträten. Bei den entlassenen Sicherungsverwahrten stelle sich aufgrund der sehr langen Unterbringungszeiten die Frage, wie wichtig es für sie noch sei, ein Leben außerhalb einer Haftanstalt zu erreichen, wie bei ihnen das Ziel eines sinnvollen Lebens motivational verankert werden könne und welche Unterstützung dafür dauerhaft erforderlich sei.
In der abschließenden Diskussion betonten die Referenten, dass vor dem Hintergrund der Heterogenität der Straftätergruppen und der individuellen Bedarfe, die Antwort auf die Frage entscheidend sei, wer was wann wo brauche. Längerfristige und „sektorenübergreifende“ Therapie- und Betreuungsangebote erscheinen ebenso sinnvoll wie die Individualisierung der Therapie unter Nutzung von Modulen aus bewährten Behandlungsprogrammen. Dabei seien vereinzelt und inselhaft durchgeführte Therapien nicht sinnvoll. Die Behandlungen sollten vielmehr im Rahmen eines Therapiemilieus realisiert werden. Bedeutsam sei es dabei auch, die Übergänge zwischen stationärem Vollzug und ambulanten Maßnahmen und Hilfen nach der Entlassung möglichst bruchlos zu gestalten. So übernähmen in einem beispielhaften Projekt in Köln externe Casemanager schon ein halbes Jahr vor der Entlassung die Aufgabe, die Straftäter auf ein Leben nach der Haft vorzubereiten.
Veröffentlicht am 22. November 2012