Gewalt verringert Angst - französische Jugendkrawalle
Kosten jugendlicher Gewalt anlässlich der französischen Straßenkrawalle
Elf Tage dauert der Aufstand der Jugendlichen in Frankreich. Elf Tage lang staunt die Öffentlichkeit über die randalierende Gewalt in den Städten des Nachbarlandes. "Tatsächlich war es jedoch keine Frage, ob die Jugendlichen los schlagen", erklärte Prof. Dr. Rainer Richter, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, "die Frage war eigentlich nur, wann sie es tun."
Die französischen Jugendlichen präsentieren jetzt ihre Art der Rechnung. Es sind auch die oft übersehenen Kosten verpasster politischer Chancen. "Auch in Deutschland leben Kinder und Jugendlichen vielfach in sozial desolaten Stadtvierteln", betonte BPtK-Präsident Richter. "Auch in Deutschland erschrecken wir vielleicht eines Tages darüber, was in unseren Straßen los ist." Denn diese Probleme seien kein Problem ethnischer oder religiöser Minderheiten, wie manche es zu erklären versuchen, sondern eines der sozialen Ausgrenzung, wie es sie auch in Deutschland gebe.
Englische Psychiater rechneten zusammen, was Londoner Jugendliche im Alter zwischen zehn und 28 Jahren den Staat kosten - je nachdem, ob sie sozial gut oder schlecht eingegliedert waren. Dafür untersuchten sie 143 Jugendliche im Alter von zehn Jahren und teilten sie in drei Gruppen: Jugendliche ohne Verhaltensprobleme, Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten und Jugendliche mit dissozialem Verhalten, die insbesondere durch grobe Regelverletzungen und aggressive Verhaltensstörungen auffielen. Nach 18 Jahren zogen die Forscher bei denselben Jugendlichen Bilanz: Jugendliche ohne psychische Störung verursachten danach im wesentlichen Erziehungskosten von durchschnittlich rund 10.000,00 Euro (Schule und Ausbildung), Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten schlugen dagegen schon mit rund 35.000,00 Euro zu Buche. Bei Jugendlichen mit dissozialen Verhaltensstörungen explodierten die Kosten auf über 100.000,00 Euro. Das heißt, die Kosten für Jugendliche mit aggressivem Verhalten waren zehnmal höher als normal. Sie stiegen insbesondere, weil Ausgaben für Arbeitslosigkeit, soziale Dienste, psychiatrische Behandlung, Polizei und Strafvollzug hinzukamen.
"Grundsätzlich gilt: Je früher präventive Programme ansetzen desto erfolgreicher sind sie", erklärte BPtK-Präsident Rainer Richter. "Liegen erst einmal psychische Störungen mit dissozialem Verhalten vor, sind die Jugendlichen viel schwerer therapierbar." Psychotherapeuten unterscheiden zwischen oppositionellem Sozialverhalten, das sich insbesondere gegen Eltern und Erzieher richtet, aber als Entwicklungsstörung erfolgreich behandelbar ist, und schwerwiegenderem dissozialen, oftmals delinquenten Verhalten, das auf die körperliche Schädigung anderer Personen zielt. "Dabei entsteht das aggressive Verhalten zunächst als Vergeltungsaktion, als Reaktion darauf, dass sich der Jugendliche nicht ernst genommen, vernachlässigt, bedroht und schließlich angegriffen fühlt", erläuterte der BPtK-Präsident. "Die Aggression mindert die Angst, die der Jugendliche empfindet." Ist dieses Verhalten allerdings erfolgreich, kann es sich zu einem eigenständigen Verhaltensmuster wandeln. Die Opfer-Aggression entwickelt sich zur Täter-Aggression, die stark eskalieren kann. "Wer es einmal bis zu Straßenkrawallen kommen lässt, hat es mit Reaktionsmustern zu tun, die eine große Eigendynamik entfalten und die nur noch schwer unter Kontrolle zu bekommen sind", stellte Rainer Richter fest. "Die französischen Politiker erleben derzeit ihre eigene Hilflosigkeit so, wie die Jugendlichen sich seit Jahren erleben: hilflos, fordernd, wütend angesichts ihrer desolaten Zukunftsaussichten, jemals einen Beruf zu erlernen oder eine Familie zu gründen." Wer kurzfristig die Gewalteskalation stoppen möchte, müsse dringend Friedenssignale senden. Die Jugendlichen kämen erst dann zur Ruhe, wenn sie sich nicht mehr gereizt und provoziert fühlten.
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Veröffentlicht am 08. November 2005