Immer mehr Psychopharmaka für Kinder und Jugendliche
BPtK kritisiert zu lange Wartezeiten bei niedergelassenen Psychotherapeuten
Psychisch kranke Kinder und Jugendliche erhalten immer öfter Psychopharmaka verordnet. Die Verordnungen für Methylphenidat (ADHS), Risperidon (aggressive Verhaltensstörungen) und Antidepressiva steigen nach Daten der Techniker Krankenkasse (TK) weiter an. „Psychopharmaka sollten bei Kindern nur äußerst vorsichtig eingesetzt werden, weil ihre Neben- und Langzeitwirkungen meist nicht ausreichend erforscht sind“, erklärt Peter Lehndorfer, Vorstand der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK). „Vielen Kinderärzten bleibt aber leider gar nichts anderes übrig, weil die Wartezeiten bei Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten eindeutig zu lang sind. In ihrer Not greifen sie dann zum Rezeptblock.“
Unter den TK-Versicherten stieg die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die hyperaktiv sind, sich schlecht konzentrieren können und deshalb den Wirkstoff Methylphenidat verordnet bekommen, von 20.000 im Jahr 2006 auf 29.000 im Jahr 2010. Bereinigt um den Versichertenzuwachs ist dies ein Anstieg um 32 Prozent. „Ritalin und Co. werden viel zu schnell verordnet“, kritisiert BPtK-Vorstand Lehndorfer. „Erst nach einer gründlichen Diagnostik, zu der auch eine intensive Befassung mit der Krankengeschichte gehört, lässt sich zuverlässig festzustellen, ob ein Kind tatsächlich an ADHS erkrankt ist und wie ihm wirksam geholfen werden kann.“ Leitlinien empfehlen eine multimodale ADHS-Therapie, zu der Aufklärung und Beratung der Eltern des Kindes oder Jugendlichen und der Erzieher bzw. Lehrer, Elterntraining und Familientherapie, Interventionen im Kindergarten oder in der Schule sowie Psychotherapie des Kindes oder Jugendlichen gehören. „Erst wenn das nicht hilft oder bei besonders schwer erkrankten Kindern kann mit einer medikamentösen Behandlung begonnen werden, dann aber immer in Kombination mit einer Psychotherapie. Grundsätzlich sollte jedoch zunächst mit einer Psychotherapie ohne Medikamente begonnen werden“, erläutert Lehndorfer.
Alarmierend sind auch die steigenden Verordnungen des Wirkstoffs Risperidon bei aggressiven Verhaltensauffälligkeiten. Bei TK-Versicherten stieg die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die deshalb solche Medikamente erhielten, von 682 im Jahr 2006 auf 1.532 im Jahr 2010. Das Medikament, mit dem bei Erwachsenen typischerweise Schizophrenien behandelt werden, ist aktuell auch für intelligenzgeminderte Kinder zugelassen, die an aggressiven Verhaltensstörungen leiden. Dabei ist umstritten, ob dieses Medikament langfristig überhaupt wirksam ist. Zudem besteht die Gefahr, dass die Betroffenen – vor allem bei längerfristigen Verordnungen – bleibende Bewegungsstörungen entwickeln. „Die Vorschriften zur Verordnung von Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen müssen weiter verschärft werden“, so Peter Lehndorfer, „diese Medikamentenverordnungen gehören ausschließlich in die Hände von entsprechend qualifizierten Fachärzten“. Der TK macht auch die steigende Anzahl von Kindern und Jugendlichen Sorge, die Antidepressiva erhalten. Auch diese werden häufig von Hausärzten verordnet. Gerade bei Jugendlichen können Antidepressiva schwere Nebenwirkungen auslösen, z. B. Vergiftungen, Herzrhythmusstörungen oder Suizidversuche.
Veröffentlicht am 25. Oktober 2011