IQ-Doping ohne Nebenwirkung?
Psychotrope Substanzen für Gesunde
Psychotrope Substanzen sind keine Mittel zum IQ-Doping und vor allem nicht ohne Nebenwirkungen. "Psychoaktive Arzneimittel bei Gesunden einzusetzen oder freiverkäuflich zu vertreiben, ist unverantwortlich", warnt Prof. Dr. Rainer Richter, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), anlässlich des 15. Deutschen Psychotherapeutentages am 14. November in Lübeck.
"Arzneimittel sollten aufgrund ihrer Nebenwirkungen nicht ohne medizinische Notwendigkeit eingenommen werden." Die Risiken eines unkontrollierten, weit verbreiteten und andauernden Konsums von Methylphenidat und Modafinil seien noch gar nicht abschätzbar. "An der Rezeptpflicht für psychotrope Substanzen darf nicht gerüttelt werden", fordert BPtK-Präsident Richter.
Die leistungssteigernde Wirkung von psychotropen Substanzen bei Gesunden ist wissenschaftlich nicht belegt. Probanden, die Methylphenidat einnehmen, berichten zwar über eine subjektive Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit. Trotz mehrerer Studien konnten bislang jedoch keine überzeugenden und konsistenten Nachweise einer objektiven Wirksamkeit bei Menschen, die nicht an einem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) leiden, erbracht werden. Wie alle anderen Arzneiwirkstoffe haben auch psychotrope Substanzen zum Teil gravierende Nebenwirkungen. Häufige Nebenwirkungen von Methylphenidat sind Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden, erhöhte Schweißneigung und verstärkte Neigung zu Krampfanfällen. Zudem können beispielsweise Herzrhythmusstörungen, suchtartige Abhängigkeit oder Wachstumsverzögerungen bei Kindern auftreten. Eine starke Überdosierung kann zu Übererregtheit des Zentralen Nervensystems, Krämpfen, optischen und akustischen Halluzinationen oder einem Kreislaufkollaps führen. Methylphenidat wirkt amphetaminartig und führt zu einer erhöhten Konzentration von Dopamin im Gehirn. Aufgrund dieses Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzials unterliegt Methylphenidat dem Betäubungsmittelgesetz und dem internationalen Suchtstoffübereinkommen.
Psychotrope Substanzen sind Wirkstoffe, die die Psyche des Menschen beeinflussen und vor allem aufgrund ihrer aufputschenden oder stress- und angstlösenden Wirkung für Gesunde diskutiert werden. Dazu gehören (ausführlich im anliegenden Merkblatt):
- Amphetamine und ihre Derivate: z. B. Methylphenidat, Modafinil,
- Antidepressiva: z. B. SSRI-Wirkstoffe,
- Antidementiva: Nootropika und ihre Derivate,
- Beta-Rezeptoren-Blocker: z. B. Metoprolol, Bisoprolol, Atenolol.
Insgesamt existieren keine stringenten Hinweise dafür, dass diese Psychopharmaka die kognitive Leistungsfähigkeit von Gesunden steigern. "Selbst wenn es Mittel gäbe, die solche Wirkungen nachweisen, bedeutet eine bessere Konzentrations- oder Merkfähigkeit nicht automatisch eine verbesserte intellektuelle Leistungsfähigkeit", stellt BPtK-Präsident Richter fest. "Die Wirkung der Amphetaminderivate kann auch dazu führen, dass Menschen schneller und bedenkenloser entscheiden. Eine größere Entscheidungsgeschwindigkeit kann gleichzeitig z. B. eine geringere Präzision der Informationsverarbeitung oder eine mangelhafte analytische Tiefe bedeuten." Insgesamt unterstützen die psychotropen Substanzen die Neigung, nicht mehr aus eigener Kraft seine Situation zu verbessern, sondern sich auf ein Medikament zu verlassen. "Das heimliche Versprechen dieser Psychopharmaka lautet, dass ein Leben dank Pillen besser gelingt", kritisiert Richter. "Der freie Verkauf von psychotropen Substanzen fördert Persönlichkeiten, die es sich gerne leichter machen als notwendig oder kein Gespür für ihre Grenzen mehr besitzen."
In Deutschland sind schätzungsweise 1,4 bis 1,9 Millionen Menschen medikamentenabhängig. Eine ähnlich hohe Zahl gilt als abhängigkeitsgefährdet. Zu den Medikamenten mit Suchtpotenzial gehören insbesondere Amphetamine und ihre Derivate. "Die Medikamentenabhängigkeit ist bereits jetzt ein ganz dunkles Kapitel in der Suchtbehandlung", erklärt Richter. Die große Mehrheit der Medikamentenabhängigen erhält ihre Suchtmittel verordnet. "Was wäre, wenn wir Psychopharmaka mit Suchtpotenzial ohne Rezept freigeben, mag ich mir gar nicht vorstellen."
Der Gebrauch von psychotropen Substanzen ist bereits weit verbreitet. Der DAK-Gesundheitsreport 2009 stellte in einer repräsentativen Befragung von 3.000 Arbeitnehmern fest, dass fünf Prozent von ihnen bereits chemische Mittel zur Verbesserung ihrer psychischen Leistungsfähigkeit eingenommen haben. Ein bis zwei Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung nehmen danach sogar regelmäßig chemisch definierte Psychopharmaka ohne medizinische Notwendigkeit. Eine Analyse der DAK-Arzneimittelverordnungen ergab, dass fast ein Viertel der Verschreibungen von Methylphenidat, Modafinil, Fluoxetin und Metopronol ohne Angabe einer nachvollziehbaren medizinischen Begründung erfolgt. Bei einer Befragung von 1.400 seiner Leser in 60 Ländern stellte das Wissenschaftsmagazins "Nature" fest, dass bereits jeder fünfte Befragte psychotrope Substanzen eingenommen hatte, insbesondere Methylphenidat (62 Prozent) und Modafinil (44 Prozent). Umfragen in den USA zeigen, dass dort etwa jeder zehnte Student (sieben bis 15 Prozent) Amphetamine oder -derivate zu "nicht therapeutischen Zwecken" geschluckt hat.
"Bei einer weiteren Verbreitung von psychotropen Substanzen besteht zwangsläufig die Gefahr, dass sich auch soziale Normen verändern", warnt BPtK-Präsident Richter. Gesellschaftliche Erwartungen an individuelle Leistungsfähigkeit führten dann dazu, dass ein sozialer Druck zur Einnahme dieser Psychopräparate entsteht. "Es reicht, wenn bei der Tour de France nur wenige Radfahrer dopen. Wenn die übrigen Fahrer mithalten wollen, sind sie in ihrer Entscheidung nicht mehr frei."
Diese Veränderung können wir schon bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen beobachten, die sich schwer konzentrieren können oder motorisch unruhig sind. "In der ADHS-Behandlung fehlt es bereits an Sorgfalt und Geduld", stellte Richter fest. In den vergangenen Jahrzehnten gab es einen sprunghaften Anstieg von Methylphenidat-Verordnungen. Es mehren sich die Hinweise, dass diese Verordnungen nicht immer sorgfältig erfolgen und beobachtet werden. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat deshalb mit Wirkung zum 1. September 2009 die Zulassung von Arzneimitteln mit dem Wirkstoff Methylphenidat geändert. Die Behandlung mit Methylphenidat setzt jetzt ausdrücklich eine gesicherte, kriterienorientierte Diagnostik einer ADHS und eine entsprechende Schwere und Dauer der Erkrankung voraus. Die Diagnose darf sich nicht allein auf das Vorhandensein eines oder mehrerer Symptome stützen. Zum anderen müssen Behandlungsversuche mit anderen Therapieverfahren, wie z. B. Psychotherapie, unternommen worden sein, ohne dass sich unter diesen Behandlungen allein ein Therapieerfolg eingestellt hat.
Veröffentlicht am 11. November 2009