Kindesvernachlässigung
Helfen - nicht drohen und strafen: Psychotherapeuten fordern mehr Augenmaß
"Wenn Eltern ihren Erziehungs- und Betreuungsaufgaben nicht mehr gerecht werden, sind Drohungen und Strafen in der Regel das falsche Mittel", warnte Prof. Dr. Rainer Richter, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer angesichts der Forderung, kinderärztliche Vorsorgeuntersuchungen zur Pflicht zu machen. Besonders problematisch sei es, Kindergeld nur in voller Höhe zu zahlen, wenn U1 bis U9-Termine eingehalten werden. Außerdem sei die Überprüfung der vorgeschriebenen Vorsorgeuntersuchungen so zeitintensiv, dass kritische Fälle wahrscheinlich weiterhin nicht rechtzeitig erkannt würden.
Die aktuelle Debatte um Kindesvernachlässigung und -misshandlung sei nach der anfänglichen und verständlichen Bestürzung über die gestorbenen Kinder nicht nur von Sachkenntnis und Sorge, sondern auch von Kontrollbedürfnissen geprägt. Notwendig seien umfassende Frühwarnsysteme, in denen unterschiedlichste Personen dafür sensibilisiert werden, Kinder in Not zu erkennen und den Mut zu fassen, darauf angemessen zu reagieren. Die BPtK unterstütze daher ausdrücklich die Initiative der Bundesfamilien-ministerin, Frau Ursula von der Leyen. "Wer Familien helfen will, darf ihnen jedoch nicht mit dem Entzug des Kindergeldes drohen", mahnte BPtK-Präsident Rainer Richter. Ziel müsse es bleiben, Eltern in die Lage zu versetzen, selbst kompetent für ihre Kinder zu sorgen. Allen Eltern mit Zwang zu drohen, könne nicht sinnvoll sein.
Eltern möglichst früh, schon während der Schwangerschaft und in den ersten Lebensjahren, Hilfe anzubieten, ist auch aus Sicht der Psychotherapeuten der richtige Ansatz. Eltern, deren Kinder ständig schreien, nicht essen und schlafen, können wirkungsvoll unterstützt werden - am Besten möglichst früh und auf freiwilliger Basis. Dafür müssen auch bereits eingeführte Früherkennungsinstrumente verbessert werden. Eltern nehmen die bestehenden Vorsorgeuntersuchungen beispielsweise grundsätzlich sehr gut an. Die Inanspruchnahme bis zur U6 (zehnter bis zwölfter Monat) liegt bei über 90 Prozent. Doch Vorsorgeuntersuchungen vernachlässigen bisher fast vollständig psychische Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten. Psychotherapeuten fordern deshalb eine Weiterentwicklung der Früherkennungsinstrumente, die auch die emotionale, psychosoziale und kognitive Entwicklung eines Kindes erfassen.
"Alarm zu schlagen, ist sicherlich sehr öffentlichkeitswirksam", kritisierte BPtK-Präsident Rainer Richter. Viel schwieriger sei es jedoch, ein Netzwerk aufzubauen, das Familien professionell unterstützt, die in psychosoziale Schwierigkeiten geraten sind. "Wenn Ärzte, Psychotherapeuten, Hebammen, Erziehungsberater, Kindergärtnerinnen und Lehrer koordiniert zusammenarbeiten, ist bereits viel gewonnen." Oftmals fehle es dafür an den notwendigen finanziellen Mitteln. Fast alle Bundesländer sparen bei der Jugendhilfe. In der vergangenen Legislaturperiode gab es sogar einen Gesetzentwurf, nach dem Erziehungsberatung zuzahlungspflichtig werden sollte. "Kindesvernachlässigung und -misshandlung sind schwerwiegende Probleme", erklärte der BPtK-Präsident. "Mit schlagzeilenträchtigen Forderungen nach mehr Kontrolle und Überwachung ist den Familien aber nicht geholfen."
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Veröffentlicht am 10. Januar 2006