Psychotherapie europaweit stärker nutzen
Europäische Experten kritisieren Favorisierung der Pharmakotherapie
Psychisch kranke Menschen in Europa brauchen eine bessere Versorgung. Psychotherapie ist in evidenzbasierten Leitlinien zur Behandlung fast aller psychischen Erkrankungen das Mittel der Wahl oder zumindest unverzichtbarer Teil der Behandlung. Dennoch wird Psychotherapie vergleichsweise wenig genutzt. Im europäischen Vergleich dominiert der Einsatz von Psychopharmaka, die aber von vielen Patienten wegen ihrer Nebenwirkungen häufig abgelehnt werden und – wie beispielsweise bei schweren Depressionen – auch nur in Kombination mit Psychotherapie verschrieben werden sollten.
Das war am 9. Februar 2012 Thema einer Fachkonferenz im Europaparlament in Brüssel unter Schirmherrschaft der irischen Europaparlamentarierin Nessa Childers. Eingeladen hatten das Network for Psychotherapeutic Care in Europe (NPCE) und die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK). Rund 50 Psychotherapeuten, Ärzte, Patientenvertreter, Vertreter der Kostenträger und Repräsentanten der Pharmaindustrie diskutierten vor diesem Hintergrund gemeinsam mit Vertretern von EU-Kommission und EU-Parlament die Rolle der Psychotherapie. Im Mittelpunkt stand die Rolle der Psychotherapie bei der Behandlung von Depressionen und Angststörungen, den verbreitetesten psychischen Störungen.
Psychische Erkrankungen Volkskrankheiten des 21. Jahrhunderts
Jeder dritte Europäer im Erwachsenenalter erkrankt innerhalb eines Jahres an einer psychischen Störung. Psychische Erkrankungen sind in Europa die Hauptursache für die 58.000 Selbsttötungen pro Jahr und fordern damit mehr Opfer als Straßenverkehrsunfälle. Psychisch kranke Menschen stoßen nach wie vor auf Ablehnung und Vorurteile, die ihr persönliches Leiden vergrößern und ihre soziale Ausgrenzung verschärfen. Die Kosten psychischer Erkrankungen werden auf drei bis vier Prozent des europäischen Bruttoinlandsproduktes geschätzt, aufgrund von Arbeitsunfähigkeit, Krankenbehandlung, Frührenten sowie auch Kosten des Justizsystems.
Patienteninteressen in den Mittelpunkt stellen
Nessa Childers (MEP) appellierte in ihrer Begrüßung an die Teilnehmer, die Interessen der psychisch kranken Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Sie selbst blicke auf eine mehr als zwanzigjährige Berufserfahrung als Psychotherapeutin in Irland zurück und kenne daher die verheerenden Folgen psychischer Erkrankungen aus nächster Nähe. Für sie müsse eine Gesellschaft daran gemessen werden, wie sie mit ihren verwundbarsten Mitgliedern umgehe. In Bezug auf psychisch kranke Menschen bedeute das, eine angemessene Gesundheitsversor-gung anzubieten. Dazu müsse die Rolle der Psychotherapie deutlich gestärkt werden.
NPCE – Eine europäische Stimme für die Psychotherapie
Psychische Krankheiten würden immer noch erheblich unterschätzt, erläuterte Prof. Dr. Rainer Richter, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, für das Network for Psychotherapeutic Care in Europe. Dies gelte sowohl in Bezug auf ihre individuellen und gesellschaftlichen Folgen als auch mit Blick auf die Behandlungsmöglichkeiten. Psychotherapie werde noch viel zu wenig genutzt. Im europäischen Vergleich dominiere die Psychopharmakotherapie, deren Nutzen aber oft zweifelhaft sei und die von vielen Patienten wegen ihrer Nebenwirkungen abgelehnt werde.
Von der Europäischen Union forderte Richter daher eine Intensivierung der Versorgungsforschung im Bereich der seelischen Gesundheit. Die bisherige europäische Forschungsförderung setze einseitig auf die genetische und neurobiologische Grundlagenforschung. Psychisch kranke Menschen bräuchten aber vor allem „Sprechende Medizin“ in der ambulanten und stationären Versorgung. Psychotherapie dabei im Konzert der europäischen Lobbyinteressen eine starke Stimme zu geben, sei das Ziel des NPCE. Dazu wolle das Netzwerk die psychotherapeutische Erfahrung von Angehörigen der Heilberufe und von Patienten nutzen.
Psychotherapie ist effizient
164 Millionen Menschen leiden im Laufe eines Jahres in der Europäischen Union unter einer psychischen Erkrankung, stellte Prof. Dr. Hans-Ulrich Wittchen (Technische Universität Dresden) fest. Die volkwirtschaftlichen Kosten psychischer Erkrankungen seien immens, psychische Erkrankungen seien daher die zentrale Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Die direkten Behandlungskosten seien dagegen marginal ebenso wie der Einsatz von Psychotherapie.
Professor Wittchen erläuterte, dass die Wissenschaft bereits Antworten habe, wie man diese Herausforderungen bewältigen könne. In der Wissenschaft gebe es nur wenig Zweifel, dass Psychotherapie bei den meisten psychischen Erkrankungen nicht nur wirksam, sondern auch effizient genutzt werden könne. Im Versorgungsalltag sei dies aber nicht spürbar. Bei der Versorgung psychisch kranker Menschen spiele Psychotherapie nur eine Nebenrolle. Eine wesentliche Ursache liege für ihn darin, dass sich psychotherapeutische Behandlungspraxis zu selten am Stand der Forschung orientiere. Europa müsse handeln und könne handeln, indem es die wissenschaftsbasierte Psychotherapie stärke.
Psychotherapie für langfristige Behandlungserfolge
Auch Dr. Declan Aherne, Klinischer Psychologe und Psychotherapeut an der Universität Limerick (Irland), setzte sich mit der Diskrepanz zwischen dem Stand der Forschung und der Versorgungsrealität auseinander. Er hinterfragte insbesondere den Nutzen von Psychopharmaka. Mit Blick auf die Depression zeigten Psychopharmaka nur bei schweren Erkrankungen eine Wirkung – im Gegensatz zur Psychotherapie. Gehe es um Langzeiteffekte, sei vor allem der Nutzen der Kombination von Psychotherapie und Pharmakotherapie zweifelhaft. Es gebe keine überzeugenden Belege, dass bei Depressionen eine Kombination beider Behandlungsformen langfristig der ausschließlichen Psychotherapie überlegen sei.
Aherne sah eine massive Fehlversorgung mit Antidepressiva. Sie würden heute faktisch bei allen Schweregraden von Depressionen verordnet und oft sogar, bevor der Schweregrad der Erkrankung überhaupt fachgerecht festgestellt worden sei. Er forderte eine evidenzbasierte Versorgung psychischer Erkrankungen, zu der ein gemeinsames europäisches Forum der beteiligten Professionen beitragen könne. Zugleich müsse die EU aber auch die Psychotherapie in ihrer Forschungsförderung angemessen berücksichtigen. Dabei müsse man sich darüber im Klaren sein, dass die Effektivität von Psychotherapie nicht ausschließlich mithilfe von randomisierten Kontrollgruppendesigns (RCT) festgestellt werden könne.
Individualisierung auch in der Pharmakotherapie
Richard Bergström, Generaldirektor der Europäischen Föderation der Pharmazeit-ischen Industrie (EFPIA), wies ebenfalls auf die Notwendigkeit des Evidenznachweises hin, um Politik und Kostenträger von bestimmten Therapien zu überzeugen. In der pharmazeutischen Forschung gebe es dazu seit Neuestem maximale Transparenz. Seit diesem Jahr müssten von der European Medicines Agency sämtliche Ergebnisse pharmakologischer Versuchsreihen publiziert werden. Damit sei der Vorwurf, es würden selektiv nur positive Ergebnisse publiziert, entkräftet.
Gleichzeitig beschrieb Bergström einen Paradigmenwechsel in der Pharmaforschung, von dem in Zukunft auch psychisch kranke Menschen profitieren würden. Das Ziel sei die individualisierte Pharmakotherapie, bei der abhängig vom Genotyp maßgeschneiderte Medikamente verabreicht werden könnten. In diesem Zusammenhang müsse man neue und mit Blick auf die Psychotherapie auch gemeinsame Fragen beantworten, z. B. zu geeigneten Forschungsdesigns jenseits von RCTs. Bergström bot dazu einen offenen Dialog an.
Erreichung der EU-Strategieziele nur mit psychischer Gesundheit
Dr. Patrizia Tosetti von der Generaldirektion Forschung und Innovation gab einen Überblick über die Aktivitäten der EU-Kommission im Bereich psychischer Gesundheit. Ein Schwerpunkt sei der „Europäische Pakt für Psychische Gesundheit und Wohlbefinden“ gewesen. Nach den Themenkonferenzen zu den Handlungsfeldern, wie Depressions- und Suizidprävention oder psychischer Gesundheit am Arbeitsplatz, würden in den kommenden Jahren gemeinsame Maßnahmen gestartet. Die Förderung der psychischen Gesundheit sei für die EU-Kommission ein wichtiges Handlungsfeld, um die Strategieziele der Union für ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum bis 2020 zu erreichen.
Der finanzielle Schwerpunkt des EU-Engagements liege in der Forschungsförderung, deren grundsätzliche Ausrichtung in den Forschungsrahmenprogrammen festgelegt sei. Das laufende 7. Forschungsrahmenprogramm fördere dabei 120 Kooperationsprojekte zu Hirnerkrankungen mit einem Volumen von 637 Millionen Euro. Neben der Grundlagenforschung gehe ein Teil der Förderung auch in die Erforschung der Behandlungsmöglichkeiten von psychischen Erkrankungen. Zur Psychotherapie habe es allerdings kaum Forschungsanträge gegeben. Wichtig sei es, die Ausschreibungen so breit zu gestalten, dass auch die Versorgungsfragen in der Psychotherapie eine Chance auf Förderung erhielten. Aber auch die möglichen Antragsteller müssten ihren Teil beitragen und Fördermittel nachfragen.
Behandlung von Depressionen – was Patienten wirklich brauchen
In einer von Andrea Mrazek, M.A., M.S., (Vorstand BPtK) moderierten Podiumsdiskussion wurde aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, welche Versorgung Patienten mit Depressionen wirklich benötigen. Prof. Dr. Stijn Jannes von Mental Health Europe betonte, dass ein Versorgungsklima geschaffen werden müsse, in dem die Belange des Patienten im Mittelpunkt stehen könnten, mit möglichst wenigen am therapeutischen Prozess Beteiligten. Dabei müsse deutlich werden, dass ein Patient behandelt werde, nicht eine Krankheit. Das bedeute auch, nicht nur die Symptome einer Erkrankung zu beachten, sondern auch die Pfade, die zu diesen Symptomen geführt haben.
Dr. Joël Boydens sprach für die Association Internationale de la Mutualité (AIM) und damit für die Kostenträger in den sozialen Sicherungssystemen. Er stellte heraus, dass der Zugang zur Gesundheitsversorgung ein fundamentales Recht in ganz Europa sei. In Bezug auf psychische Gesundheit gebe es dazu noch Einiges zu tun. Dazu gehöre die kontinuierliche Qualifizierung der Gesundheitsberufe ebenso wie die Erstattung der Behandlungskosten für alle qualifizierten Berufe. In Bezug auf psychische Gesundheit müsse auch überlegt werden, ob analog zum Hausarzt ein psychologischer Versorgungspfad zu schaffen sei.
Für Dr. Walter Deberdt vom Pharmakonzern Eli Lilly and Company war eine maßgeschneiderte Behandlung das Wesentliche, was Patienten wirklich brauchen. Das setze bei Pharmazeuten, Psychiatern und Psychotherapeuten ein gemeinsames Krankheits- und Behandlungsverständnis voraus und die Pharmaindustrie sei hier ein potenzieller Partner. Eine geteilte Verantwortung in der Versorgung brauche aber den gemeinsamen Zugang zu Daten und Evidenzen, für welche Patienten welche Behandlungen am Sinnvollsten seien.
Präferenzen von Patienten
Patientenvertreter machten deutlich, dass bei den meisten psychisch kranken Menschen europaweit Psychotherapie die Behandlung der ersten Wahl sei, erst danach komme die Pharmakotherapie psychischer Störungen. Patienten müssten aber auch eine gute Wahl treffen können und müssten daher im Sinne der evidenzbasierten Medizin so informiert werden, dass sie eine gute Entscheidung treffen könnten. Paul Arteel stellte für GAMIAN (Global Alliance of Mental Illness Advocay Networks) die Bedeutung der Psychoedukation heraus. Neben diesen Behandlungsangeboten sollte aber zugleich die Rolle der Selbsthilfe gestärkt werden. Expertise durch Erfahrene berge großes Potenzial und koste wenig.
Evidenz von Psychotherapie
Hier zeigte die Diskussion gerade mit Blick auf das psychotherapeutische Behandlungsangebot unterschiedliche Sichtweisen beim Untersuchungsgegenstand, z. B. ob dies die Psychotherapieverfahren im engeren Sinne oder breitere psychologische Interventionen und Behandlungen sein sollen. Es wurde festgestellt, dass der Erfolg von Psychotherapie neben Fachwissen und verfahrensspezifischen Kompetenzen insbesondere auch von der Beziehungskompetenz der Behandler abhänge. Diese müsse daher viel stärker Forschungsgegenstand werden.
Eine intensive Diskussion gab es hinsichtlich der Untersuchungsdesigns und dem Stellenwert von RCTs. RCTs seien geeignet, die Wirksamkeit von Behandlungen zu belegen. Wenn es aber um den Nachweis von Langzeiteffekten oder individuellen Behandlungsplänen gehe, ließe sich ein solches Design kaum mehr realisieren. Dies gelte im Übrigen insbesondere auch für die Psychotherapie, die per se eine individualisierte, maßgeschneiderte Behandlung sei und damit das seit langem praktiziere, was die Pharmaindustrie für die Zukunft verspreche.
Dies müsse die EU bei der Vergabe von Forschungsmitteln berücksichtigen und die Psychotherapieforschung viel stärker unterstützen. Auch weil die Psychotherapie gegenüber der Pharmakotherapie einen grundlegenden strukturellen Nachteil bei der Finanzierung ihrer Forschung hat. Bei der Pharmakotherapie wird die Forschung über den Abgabepreis des Medikamentes refinanziert. Die Kosten psychotherapeutischer Forschung können dagegen nicht unmittelbar auf die Honorare psychotherapeutischer Leistungen umgelegt werden. Psychotherapieforschung sei daher in besonderer Weise auf öffentliche Forschungsförderung angewiesen.
Psychotherapie nützt Europa
Am Ende blickten die Teilnehmer auf eine Veranstaltung zurück, auf der sich die verschiedenen Stakeholder in vielen Punkten einig waren. Gemeinsam war es gelungen, den Nutzen und die Potenziale von Psychotherapie aufzuzeigen. Noch habe Psychotherapie zwar keine große Lobby in den europäischen Gesundheitssystemen, aber man sei auf einem guten Weg. Klare überzeigende Positionen können vertreten werden, wenn sich die Beteiligten auf Versorgungsfragen konzentrieren.
Grundlegende Fragen, wie die nach dem Wesen der Psychotherapie oder der Qualifikation der Behandler, schwebten dabei natürlich immer mit. In einem Netzwerk unterschiedlicher Beteiligter vom Behandler bis zum Patienten könnten die damit verbundenen offenen Fragen durchaus in den Hintergrund treten, damit sich der Blick auf das Wesentliche nicht verstellt: Psychotherapie nützt Europa.
*diese Fotos stehen zur freien Verfügung, müssen aber mit folgendem Copyright versehen werden "© Foto Europäische Union"
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Veröffentlicht am 23. Februar 2012