Psychotherapie-Richtlinie flexibler gestalten
BPtK-Tagung „Gute Praxis psychotherapeutische Versorgung: Borderline-Persönlichkeitsstörung“
Schätzungsweise gut ein Prozent der Bevölkerung leidet an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS). Borderline-Erkrankungen, auch emotional-instabile Persönlichkeitsstörungen genannt, sind häufig komplexe, schwere und unbehandelt oft chronifizierende psychische Erkrankungen, die insbesondere durch Impulsivität und Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, in Affekten und Selbstbild gekennzeichnet sind. Borderline-Patienten galten lange Zeit als nicht behandelbar. Psychopharmaka erwiesen sich als nicht wirksam. Seit einigen Jahren stehen jedoch spezifische Psychotherapiemethoden zur Verfügung, die nachweislich wirksam und stationär wie ambulant einsetzbar sind.
Die ambulante Behandlung von Borderline-Erkrankungen stößt jedoch häufig an die Grenzen einer zu starren Psychotherapie-Richtlinie, insbesondere was die notwendige lange Behandlungsdauer und die Kombination von Einzel- und Gruppentherapie angeht. „Die Veranstaltung soll darstellen, wie wirksam eine psychotherapeutische Behandlung ist, welche guten Versorgungsmodelle es bereits gibt und wie diese in der Fläche umgesetzt werden können“, erklärte Dr. Christina Tophoven, Geschäftsführerin der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) zur Begrüßung.
Mit dem Porsche Turbo auf der Überholspur
Eingangs schilderte Stefanie Laqua aus dem Innenleben einer von der Borderline-Störung Betroffene und beschrieb ihre bisherigen Behandlungserfahrungen. Sie schilderte, dass sie 63-mal aufgrund einer Borderline-Störung behandelt worden sei und insgesamt fast zweieinhalb Jahren ihres Lebens in der Psychiatrie verbracht habe, weil es an qualifizierten Behandlungsangeboten gemangelt habe. Dabei sei die Erkrankung so facettenreich wie die Menschen, die an ihr erkrankt seien. (…) Heute wisse sie, dass emotionales Mittelmaß keine Bedrohung sei. Auch dank zweier stationärer Behandlungen mit spezifischen Psychotherapien sei sie mittlerweile stabil und studiere Soziologie an der Universität.
Spezifische Psychotherapie wirksam
Prof. Babette Renneberg von der Freien Universität Berlin, Mitautorin der S2-Leitlinie zur Behandlung von Persönlichkeitsstörungen, bestätigte, dass in der Vergangenheit Patienten zum Teil bis zu einem Jahr in Kliniken stationär untergebracht worden seien, weil es keine effiziente Behandlung für die BPS gegeben habe. Die Diagnose sei lange eine Art „Abfallkategorie“ für schwierige Patienten gewesen. Seit Anfang der 1990er Jahre gebe es jedoch eine positive Entwicklung der diagnostischen und therapeutischen Forschungsbefunde und heute stünden wirksame Psychotherapiemethoden für die Behandlung zur Verfügung. In der Versorgung von Patienten mit BPS spiegele sich das jedoch noch zu wenig wieder.
Die britische NICE-Leitlinie betone daher auch bereits in ihrer ersten Empfehlung, dass Patienten mit BPS Zugang zum Versorgungssystem erhalten sollen. Als grundlegende methodenübergreifende Therapieprinzipien empfehle die Leitlinie eine hoffnungsvolle und positive Behandlungsatmosphäre mit der Perspektive, dass Besserung möglich ist, und den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung, die nicht wertend sowie zuverlässig und beständig ist. Zudem empfehle die deutsche Leitlinie, Psychotherapie als die Methode der ersten Wahl, eine sorgfältige Diagnostik mittels klinischem Gespräch, strukturierten Interviews, Selbsteinschätzungsfragebögen, transparente Rückmeldung der Diagnose sowie eine Hierarchisierung der Behandlungsziele.
Psychodynamische Therapiemethoden
Zu den evidenzbasierten psychodynamischen Therapieansätzen gehöre die Mentalisierungsbasierte (MBT) und die Übertragungsfokussierte (TFP) Therapie.
Die MBT gehe davon aus, dass die Patienten eine verminderte Fähigkeit haben, den eigenen und fremden Handlungen Bedeutung zuzuschreiben. Ziel der Therapie sei eine Verbesserung der Mentalisierungsfähigkeit als Voraussetzung für bessere Affekt- und Impulskontrolle sowie verbessertes Beziehungserleben. Die MBT kombiniere Einzel- und Gruppentherapie. Studien zeigten signifikante Verbesserungen nach 1,5 Jahren Behandlung und deutliche Effekte nach drei Jahren bei fortgesetzter kontinuierlicher Gruppentherapie.
Die TFP sei eine störungsspezifisch modifizierte Form der psychodynamischen Psychotherapie, die auf die Objektbeziehung und Übertragung fokussiere. Die TFP werde als Einzeltherapie mit zwei Sitzungen wöchentlich über mindestens ein Jahr durchgeführt. Studien zeigten, dass die TFP in den Bereichen Borderline-Symptome, psychosoziales Funktionsniveau und Persönlichkeitsorganisation einer Routinebehandlung durch Experten überlegen sei.
Verhaltenstherapeutische Therapiemethoden
Evidenzbasierte verhaltenstherapeutische Methoden seien die Schematherapie und die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT), für die insgesamt die meisten empirischen Wirksamkeitsbelege vorliegen würden.
Die DBT basiere auf kognitiv-verhaltenstherapeutischen Techniken und integriere Methoden und Strategien anderer therapeutischer Schulen sowie fernöstliche Meditationstechniken. Im Mittelpunkt stehe die Akzeptanz und Validierung des emotionalen Erlebens sowie die Vermittlung von Fertigkeiten zur Affekt- und Impulskontrolle. Die DBT kombiniere Einzeltherapie (ein bis zwei Sitzungen je Woche über zwei Jahre), ein wöchentliches Fertigkeitentraining in der Gruppe sowie Telefonberatung zur Lösung akuter Krisen. Die Therapeuten nehmen wöchentlich an einer Supervisionsgruppe teil. Eine Metaanalyse von 2010 zeige insgesamt moderate Effekte für DBT bei BPS im Vergleich zur Routineversorgung und kleine Effekte im Vergleich zu anderen BPS-spezifische Verfahren. In randomisiert-kontrollierten Studien konnte zudem gezeigt werden, dass eine DBT-Behandlung zu einer deutlichen Reduktion der borderlinespezifischen Symptomatik, weniger Klinikaufenthalten und selteneren Kontakten in der Notaufnahme führt. Dabei erzielen Therapeuten mit einer längeren Schulung signifikant bessere Therapieergebnisse bei Suizidalität und selbstverletzendem Verhalten.
Zusammenfassend hielt Prof. Renneberg fest, dass es wirksame Behandlungsansätze gebe, die Symptomatik und Funktionsniveau verbesserten. Dabei seien eine ausreichend lange Therapiedauer und die Kombination von Einzel- und Gruppentherapie entscheidende Wirkfaktoren. Auch die Arbeit im Netzwerk sowie Supervisions- und Konsultationsteams seien wichtige Bausteine für eine gute Therapie. Die wissenschaftliche Evidenz sei da, nun gehe es darum den Transfer in die Versorgungspraxis zu leisten.
Stationäre psychodynamische Behandlung
Ein stationäres psychodynamisches Therapiekonzept stellte Cornelia Bothe von der Klinik für Persönlichkeits- und Traumafolgestörungen der Asklepios Klinik Nord aus Hamburg vor. Die Patienten kämen in der Regel sechs Monate zur Behandlung in die Klinik. Aus ihrer Erfahrung sei eine längere stationäre Behandlung mit anschließender ambulanter Weiterbetreuung in der Regel sinnvoller als viele kürzere Intervalle. Die Patienten seien zumeist sehr schwer Ich-strukturell beeinträchtigt und hätten häufig schon mehrere Behandlungen hinter sich, durch die sich manchmal zwar die Symptome, aber nicht die schweren Beziehungs- und Mentalisierungsstörungen, unter denen die Patienten leiden, verändert hätten.
Im Mittelpunkt der therapeutischen Arbeit in der Klinik stünde die Beziehungsthematik, da nach psychodynamischem Verständnis jede Persönlichkeitsstörung (auch) eine Störung der Beziehung zu sich selbst und zu anderen sei. Die Behandlung laufe dabei in drei Phasen ab. In der ersten Phase gehe es um Beziehungsaufbau, Halt und Affektstabilisierung. Gleichzeitig finde eine gründliche und umfassende Testdiagnostik statt und ggf. werde eine ergänzende Pharmakobehandlung erwogen. Auf der Basis einer guten therapeutischen Beziehung könnte dann in der zweiten Phase konfrontierender und deutender gearbeitet werden, um z. B. die Wahrnehmungsverzerrungen im Bereich der interpersonellen Beziehungen zu verstehen und zu verändern. In der dritten Phase gehe es dann um Abschiednehmen und Trennung. Allerspätestens jetzt müsse in den Vordergrund treten, wie es für den Patienten nach dem Klinikaufenthalt weitergehe. Prognostisch sei es schlecht, wenn die Patienten im Anschluss an die stationäre Therapie keinerlei ambulante Betreuung oder Behandlung hätten. Die Institutsambulanz sei für einige Patienten eine Lösung, allerdings nur für sehr wenige. Die Wartezeit auf einen ambulanten Therapieplatz betrage in Hamburg in der Regel zwischen sechs und zwölf Monaten. Ambulante Psychotherapeuten schreckten zum Teil immer noch davor zurück, Borderline-Patienten in Behandlung zu nehmen. Hier müsse dringend etwas verändert werden.
DBT-Netzwerk Berlin
Als ein Best-Practice-Beispiel für die ambulante Versorgung stellte PD Dr. Christian Stiglmayr das Borderline-Netzwerk in Berlin vor. Im Netzwerk arbeiten derzeit 30 niedergelassene Psychotherapeuten zusammen und es werden acht Fertigkeitengruppen angeboten. Zudem gehören mehrere teilstationäre und komplementäre Einrichtungen sowie Krankenhäuser zum Netzwerk. Neben der Einzeltherapie gibt es Gruppentherapie und Telefoncoaching bei akuten Krisen. Die Therapeuten treffen sich einmal wöchentlich in sogenannten Konsultationsteams, um sich fachlich bei den Behandlungen von Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen gegenseitig zu unterstützen und abzustimmen.
„Den Behandlungsbedarf können wir damit aber bei Weitem nicht decken“, stellte Stiglmayr fest. Jeder Therapeut habe täglich mindestens drei Behandlungsanfragen. Gehe man von einer Prävalenzrate von 1,1 Prozent aus, bedeute dies allein in Berlin 14.000 bis 15.000 Patienten mit einer BPS, denen insgesamt 2.000 kassenärztlich zugelassene Psychotherapeuten gegenüber stünden. Dabei rechne sich die ambulante Behandlung von BPS für die Krankenkassen, denn die höchsten Kosten entstünden durch die häufigen stationären Krankenhausbehandlungen. Bei den Patienten, die im Borderline-Netzwerk Berlin bisher behandelt würden, sei die Kostenersparnis im stationären Bereich doppelt so hoch wie die Kosten der ambulanten DBT, d. h. für einen investierten Euro würden zwei Euro gespart.
Für eine gute ambulante Versorgung seien eine fundierte Fortbildung in einem spezifischen Verfahren (DBT, TFP MBT oder Schematherapie) und die Zusammenarbeit in einem Netzwerk notwendig. Wie es Marsha Linehan, die Begründerin der DBT auch formuliert habe: „Borderline-Therapie alleine zu machen, ist grob fahrlässig.“ Die Zusammenarbeit in einem Netzwerk helfe, die häufig hohe emotionale Belastung bei der Behandlung auf mehrere Schultern zu verteilen und, die Therapie von Borderline-Patienten qualitativ hochwertig und mit anhaltendem Spaß durchzuführen. In der Versorgungspraxis zeige sich, dass die ambulante Behandlung im Berliner Netzwerk erfolgreich sei, so Christian Stiglmayr. Erste Ergebnisse einer Evaluationsstudie belegen eine deutliche Verringerung stationärer Aufenthalte, des selbstverletzenden Verhaltens, der Borderline-Symptomatik und der Depressivität.
Psychotherapie-Richtlinie flexibler gestalten
Zum Abschluss stellte Timo Harfst, wissenschaftlicher Referent der BPtK, dar, welche Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen notwendig sind, um die beschriebenen psychotherapeutischen Konzepte auch flächendeckend umzusetzen. Psychotherapie sei ohne Frage das „first line treatment“ für Patienten mit einer BPS. „Die Behandlung erfordert in der Regel eine Kombination von Einzel- und Gruppentherapie sowie eine deutlich längere Behandlungsdauer als sie nach der Psychotherapie-Richtlinie möglich ist“, kritisierte Harfst. Die Psychotherapie-Richtlinie schließe für psychodynamische Verfahren die Kombination von Einzel- und Gruppentherapie sogar explizit aus, eine Vorschrift, die weniger evidenzbasiert als „eminenzbasiert“ sei.
Eine evidenzbasierte Weiterentwicklung der Psychotherapie-Richtlinie erfordere deshalb die Streichung des § 19, der die Kombination von Einzel- und Gruppentherapie in psychodynamischen Verfahren grundsätzlich ausschließe, sowie die Erweiterung der Behandlungskontingente für Verhaltenstherapie und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bei Patienten mit BPS. Weiterhin seien flexiblere Interventionsmöglichkeiten erforderlich, um z. B. Krisen auffangen oder eine langfristige Erhaltungstherapie anbieten zu können. Ferner müsse auch darüber nachgedacht werden, wie der größere Behandlungsaufwand bei Borderline-Patienten, z. B. für Kriseninterventionen und Koordinationsaufgaben, finanziell abgedeckt werden könne. Entsprechende finanzielle Anreize könnten mit Qualitätsanforderungen verbunden werden, wie z. B. regelmäßige Teilnahme an spezifischen Intervisionsgruppen (Konsultationteams) oder Vernetzung mit den anderen an der Behandlung beteiligten Ärzten, Psychotherapeuten und Einrichtungen. Hierfür werde sich die BPtK einsetzen.
Diskussion
In der abschließenden Diskussion wurde noch einmal deutlich, wie erfolgreich und befriedigend die Arbeit mit Borderline-Patienten für Psychotherapeuten sein kann, wenn störungsspezifische Ansätze angewendet werden und eine gute Vernetzung mit anderen Kollegen und Behandlern vorhanden sei. Dabei sei eine Änderung der Rahmenbedingungen dringend geboten, um eine leitliniengerechte Versorgung regelhaft zu ermöglichen. Die bisherigen Ansätze, Therapien in der gebotenen Dauer und Intensität durchzuführen, indem Gruppentherapien über das persönliche Budget, als Angebot von Psychiatrischen Institutsambulanzen oder als Selbstzahler von den Patienten finanziert werden, seien nur Notlösungen, die für viele Patienten nicht funktionierten. Ferner sei es erforderlich, dass in Zukunft noch mehr Psychotherapeuten über Fortbildungscurricula eine entsprechende Zusatzqualifikation erwerben und die Vernetzung u. a. mit komplementären Diensten weiter verbessert werde.
Veröffentlicht am 19. September 2012