Psychotisch kranke Menschen leitliniengerecht versorgen
BPtK-Veranstaltung stellt Modelle guter psychotherapeutischer Versorgung vor
Etwa ein Prozent der Menschen erleidet im Laufe seines Lebens eine psychotische Erkrankung. Evidenzbasierte Leitlinien empfehlen immer auch Psychotherapie als wirksame Behandlungsmethode.
»In der Realität dominiert jedoch eine einseitige Pharmakotherapie“, kritisierte Prof. Dr. Rainer Richter, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), auf der Veranstaltung „Gute Praxis psychotherapeutische Versorgung: Psychosen“ in Berlin. „Psychotisch kranke Menschen erhalten selten die angemessene Behandlung.“ Die Tagung war Auftakt einer neuen BPtK-Veranstaltungsreihe, die zeigt, wie wichtig Psychotherapie bei psychischen Erkrankungen ist und wie sich Versorgungskonzepte in der Fläche umsetzen lassen.
Die Schattenseite des Mondes
Zur Einstimmung in das Thema las die Ärztin und Autorin Dr. Renate Klöppel mehrere Ausschnitte aus ihrem Buch „Die Schattenseite des Mondes“. Das Buch erzählt die wahre Geschichte der Malerin Helene Beitler, die mit 28 Jahren an Schizophrenie erkrankte. Einfühlsam und anschaulich gab die Autorin einen Einblick in das psychotische Erleben einer Betroffenen.
Empfehlungen der Leitlinie „Schizophrenie“
Prof. Dr. Stefan Klingberg vom Universitätsklinikum Tübingen referierte zur Psychotherapie bei schizophrenen Störungen auf der Basis der aktualisierten britischen NICE-Guideline. Die britischen Behandlungsempfehlungen, die im März 2009 unter dem Vorsitz der klinischen Psychologin Prof. Dr. Elizabeth Kuipers (London) fertiggestellt worden waren, seien international als die beste Leitlinie für die Behandlung der Schizophrenie akzeptiert. Aufgrund der umfangreichen Evidenz aus zahlreichen klinischen Studien empfehle die Leitlinie, dass die Kognitive Verhaltenstherapie allen Patienten mit Schizophrenie angeboten werden soll während der akuten Phase, aber auch später, einschließlich des stationären Settings. Die Kognitive Verhaltenstherapie solle als Einzeltherapie sowohl zur Behandlung von andauernden Positiv- und Negativsymptomen wie auch zur Rückfallprophylaxe eingesetzt werden. Auch die aktuelle vom Bundesforschungsministerium geförderte klinische Studie aus dem Psychotherapie-Forschungsverbund „POSITIVE NET“ habe die spezifischen Effekte der Kognitiven Verhaltenstherapien im Vergleich zu supportiven Gesprächen und Psychoedukation auf die Kernsymptomatik der Schizophrenie bestätigt, die über die Effekte einer unterstützenden Therapie hinausgingen. Darüber hinaus empfehle die britische Leitlinie Familieninterventionen, die u. a. Komponenten des Krisenmanagements oder des Problemlösens enthalten. Als besonders hilfreich würden diese Interventionen bei Patienten mit hohem Rückfallrisiko und andauernden Symptomen eingeschätzt.
Umsetzungshindernisse
Mit Blick auf die Versorgungsrealität stellte Prof. Klingberg fest, dass es bei der Psychotherapie von Psychosen kein Evidenz-, sondern vor allem ein Umsetzungsproblem in der ambulanten, aber auch in der stationären Versorgung gebe. Implementierungshindernisse sah er sowohl auf Seiten der Psychotherapeuten und zuweisenden Ärzte als auch in den strukturellen Bedingungen der Richtlinienpsychotherapie und der Krankenhausversorgung. Psychotherapie müsse künftig Teil der stationären Routineversorgung von schizophren erkrankten Patienten werden. Bei der Planung neuer Versorgungskonzepte, z. B. in Verträgen zur integrierten Versorgung, seien psychotherapeutische Leistungen verbindlich vorzusehen. Dies sei heute vielfach noch nicht der Fall. Ferner bedürfe es einer Änderung der Psychotherapie-Richtlinie dahingehend, dass die ambulante Psychotherapie nicht länger auf die Behandlung der psychischen Begleit-, Folge- oder Residualsymptomatik psychotischer Erkrankungen beschränkt wird, sondern grundsätzlich zur Behandlung der Schizophrenie indiziert ist. Die BPtK wird deshalb den Gemeinsamen Bundesausschuss auffordern, die Indikationsbeschreibung der psychotischen Erkrankungen in der Psychotherapie-Richtlinie dahingehend zu ändern, dass die Diagnosegruppe „Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen“ selbst als Indikation zur Psychotherapie genannt wird, damit künftig eine leitliniengerechte Versorgung von Menschen mit Psychosen im ambulanten Bereich ermöglicht wird.
Kognitiv-verhaltenstherapeutische Konzepte in der stationären Versorgung
In der stationären Versorgung dominiert noch immer die medikamentöse Behandlung von Psychosepatienten, stellte Bert Hager von der Klinik Bonn des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) eingangs seines Vortrags fest. Der Stellenwert psychotherapeutischer, psychoedukativer und anderer nicht-medikamentöser Therapien sei weitgehend abhängig von den vorherrschenden therapeutischen Grundüberzeugungen in den jeweiligen Krankenhäusern. Für die LVR-Klinik Bonn beschrieb Hager, wie sich die therapeutischen Maßnahmen aus den phasenspezifisch definierten Behandlungszielen ableiten, von der akuten über die postakute Phase bis zur Phase der Remission. An seiner Klinik würde die Kognitive Verhaltenstherapie in einem individualisierten Ansatz spätestens in der subakuten Phase eingesetzt. Ferner gehörten die kognitive Rehabilitation, Familienintervention (insbesondere zur Rückfallprophylaxe) und Psychoedukation im Einzelsetting und in Gruppen zu den zentralen Behandlungsangeboten. Dabei würden Patienten und Angehörige die psychotherapeutischen Angebote sehr motiviert annehmen. Regelmäßige Fortbildungen im Haus sorgten dafür, die psychologisch-psychotherapeutischen Interventionen als notwendige Ergänzung der Standardbehandlung fest zu etablieren.
Tiefenpsychologische Konzepte
Wie ein tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapieansatz stationär realisiert werden kann, stellte Dr. Karsten Schützmann von der Asklepios Klinik Nord (Ochsenzoll) in Hamburg vor. Die Patienten würden – auch in akuten psychotischen Phasen – zwei- bis dreimal wöchentlich an einer Gruppenpsychotherapie teilnehmen. Diese Gruppen seien kleiner und die Sitzungen kürzer (30 bis 45 Minuten) als oft üblich. Zudem gebe es zwei Gruppen mit unterschiedlichen Anforderungsgraden, in die die Patienten nach ihren individuellen Möglichkeiten eingeteilt würden. Parallel dazu fände zweimal wöchentlich Einzelpsychotherapie statt. Der modulare Aufbau der Behandlungseinheit Schizophrenie in seiner Klinik unterstütze das psychotherapeutische Konzept. Die Station sei eine Behandlungseinheit mit stationären, teilstationären und ambulanten Behandlungsplätzen. Ein Wechsel zwischen stationärer, teilstationärer und ambulanter Behandlung sei in beide Richtungen jederzeit möglich. Sichergestellt werde die Behandlungskontinuität durch einen persönlichen Therapiebegleiter, der in jeder Phase der Behandlung und auch bei Wiederaufnahmen der Bezugstherapeut des Patienten bleibt.
Ambulante Praxis
Dass eine psychotherapeutische Behandlung von Patienten mit Schizophrenie auch ambulant gut möglich ist, zeigte der Psychotherapeut Dr. Norbert Matejek anschaulich in seinem Vortrag. Neben ausreichender psychiatrischer und klinischer Erfahrung sowie einer guten Supervision sei vor allem eine gute Vernetzung mit dem behandelnden Psychiater, den Sozialpsychiatrischen Diensten oder dem zuständigen psychiatrischen Krankenhaus wichtig, um insbesondere in Krisen des Patienten ausreichende Unterstützungsmöglichkeiten zu haben. Hindernisse sehe er vor allem darin, dass Psychotherapeuten im Rahmen ihrer Ausbildung zu wenig Erfahrung mit psychotischen Patienten sammelten und sich mit den Vorurteilen anderer Berufsgruppen hinsichtlich der Therapiemöglichkeiten bei Patienten mit psychotischen Erkrankungen identifizierten.
Reformbedarf
In der abschließenden Diskussion waren sich die Referenten darin einig, dass es substanziellen Änderungsbedarf in den verschiedenen Sektoren und Handlungsfeldern gibt, um eine Verbesserung der Versorgung von Menschen mit psychotischen Erkrankungen zu erreichen. Zum einen müsse sich die Evidenz zur Wirksamkeit der Psychotherapie bei Schizophrenie auch in der Psychotherapie-Richtlinie niederschlagen. Für die stationäre Versorgung bedürfe es einer größeren Transparenz des tatsächlichen Leistungsgeschehens, damit für Patienten, Angehörige und Zuweiser erkennbar wird, welche Krankenhäuser eine leitliniengerechte Versorgung einschließlich einer qualifizierten Psychotherapie bei Patienten mit einer Schizophrenie gewährleisten. Darüber hinaus bedürfe es einer intensiveren Vernetzung und Kooperation der verschiedenen Berufsgruppen im ambulanten, teilstationären und stationären Bereich, um den besonderen Anforderungen an die Versorgung dieser Patientengruppen gerecht werden zu können. Neue Versorgungsformen könnten hier einen Ansatzpunkt liefern, müssten aber stärker als bisher die psychotherapeutischen Leistungen als festen Bestandteil der Versorgung in den Vereinbarungen festschreiben. Vermehrte Aktivitäten der Fachgesellschaften und Psychotherapeutenkammern im Bereich der Fortbildung zur psychotherapeutischen Behandlung von psychotischen Erkrankungen könnten darüber hinaus wichtige Impulse setzen, dass sich noch mehr Psychotherapeuten in diesem Versorgungsbereich engagieren.
Veröffentlicht am 07. Mai 2012