Spezialisierte Behandlung von Essstörungen wirksam
BPtK-Veranstaltung: Gute Praxis psychotherapeutische Versorgung
Etwa ein Prozent der Frauen erkrankt während ihres Lebens an einer Anorexie (Magersucht) und circa zwei Prozent der Frauen leiden während ihres Lebens an einer Bulimie (Ess-Brech-Sucht). Frauen erkranken etwa zwölfmal häufiger als Männer an einer Magersucht oder Bulimie. An Essattacken ohne Hunger und Erbrechen (Binge-Eating-Störung) erkranken zwischen zwei bis drei Prozent der Bevölkerung.
»Essstörungen sind im Vergleich zu Depressionen oder Angststörungen seltene, aber häufig sehr schwere psychische Erkrankungen“, erklärte Peter Lehndorfer, Vorstandsmitglied der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK). Auch deshalb, weil sie – insbesondere bei der Anorexie – nicht selten lebensbedrohlich seien. Anorexie im Erwachsenenalter sei immer noch die psychische Erkrankung, die mit der höchsten Sterblichkeit einhergehe. Langzeituntersuchungen zeigten zudem, dass ein nicht so kleiner Teil der Patientinnen sich auf lange Sicht nicht von ihrer Essstörung befreien könne und ihr Leben von dieser geprägt sei. Welchen Beitrag die Psychotherapie bei der Behandlung dieser Patientengruppe leisten kann, war das Thema der zweiten BPtK-Veranstaltung aus der Reihe „Gute Praxis psychotherapeutische Versorgung“.
„Auf Stelzen gehen“
Eindringlich und berührend gab Lena S. zu Beginn der Veranstaltung einen Einblick in das Leben und die Gefühlswelt einer Magersüchtigen, als sie eine Passage aus ihrem autobiographischen Buch las. Um gesund zu werden, habe sie – so banal das auch klinge – in einer Klinik Schritt für Schritt wieder lernen müssen, normal zu essen, antwortete Lena S. auf die Frage, was ihr am meisten geholfen habe. Heute gehe es ihr gut.
Störungsspezifische Psychotherapie notwendig
Wie Essstörungen nach dem heutigen Stand der Wissenschaft behandelt werden sollten, referierte Prof. Dr. Jörn von Wietersheim aus der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Ulm. Die S3-Leitlinie „Essstörungen“ empfehle nicht nur Behandlungsmethoden, sondern auch, wann eine stationäre Behandlung indiziert sei oder wie die Versorgungskoordination erfolgen solle.
Das nachweislich wirksamste Behandlungsverfahren von Magersucht sei Psychotherapie, stellte von Wietersheim fest. Eine Therapie mit Psychopharmaka zeigte dagegen keine Erfolge.
Zur ambulanten Behandlung werden evidenzbasierte, störungsspezifische und psychotherapeutische Interventionen und Behandlungsansätze empfohlen. Dabei käme es auch darauf an, dass die Behandlung aufgrund der Komplexität und Schwere der Erkrankung von einem Therapeuten durchgeführt werde, der in der Behandlung von Essstörungen erfahren sei.
Dies gelte auch für stationäre Behandlungen, die in spezialisierten Zentren oder Kliniken erfolgen solle. Eins der wichtigsten Ziele einer stationären Behandlung sei die weitgehende Wiederherstellung eines normalen Körpergewichts. Häufig würden die Kostenträger die dafür notwendigen langen stationären Behandlungen nicht bezahlen. Eine Patientin, die mit 30 Kilogramm Körpergewicht ihre Behandlung beginne, benötige aber circa 40 Wochen um auf ein Gewicht von 50 Kilogramm zu kommen. Außerdem fehle es an spezialisierten Kliniken. Die Wartezeiten in diesen Kliniken seien viel zu lang. „Bei Patienten mit extremem Untergewicht eine lebensgefährliche Zeit“, kritisierte von Wietersheim.
Patientinnen mit einer Bulimie könnten auch weitgehend ambulant behandelt werden. Auch für dieses Störungsbild empfehle die Leitlinie eine Psychotherapie. Die besten Wirksamkeitsbelege lägen für die kognitive Verhaltenstherapie vor. Dies gelte auch für die Binge-Eating-Störung.
Insgesamt bemängelte von Wietersheim eine große Lücke zwischen den Forschungsergebnissen und der Versorgungsrealität. Die Ergebnisse aus randomisierten-kontrollierten Studien hätte mit der Versorgungsrealität häufig nicht viel zu tun. Die Versorgung könne nur dann optimal gestaltet werden, wenn die Kostenträger es ermöglichen würden, die Empfehlungen aus Leitlinien auch umzusetzen. Außerdem müssten dringend mehr Versorgungsstudien durchgeführt werden.
Stationäre Gewichtszunahme mit psychotherapeutischer Unterstützung
Anschaulich schilderte Dr. Holmer Graap vom Universitätsklinikum Erlangen wie eine auf Essstörungen spezialisierte stationäre Behandlung aussehen kann. Die Behandlung nach dem „Erlanger Konzept“ erfolge in drei Phasen. Die prästationäre Phase diene vor allem dem Aufbau einer Behandlungsmotivation und sei hierfür sehr wertvoll. Vermittelt werde den Patientinnen insbesondere, dass in der Klinik ein therapeutisches Esstraining erfolgen werde. Die Patientinnen, die sich nach diesen intensiven Vorgesprächen für eine stationäre Behandlung entscheiden würden, brächen diese in der Regel auch selten ab.
Das gesamte therapeutische Personal auf der Station sei für die Behandlung von Essstörungen extra geschult. Wesentlicher Behandlungsbaustein sei das Erlernen eines regelmäßigen Essverhaltens mit dem Ziel einer Gewichtszunahme und einem stabilen, möglichst gesunden Gewicht. Hierzu werde mit den magersüchtigen Patientinnen zu Beginn ein Therapievertrag zur Gewichtszunahme vereinbart. Bei Gewichtszunahme sehe der Vertrag „Lockerungen“, wie die Möglichkeit, an mehr Therapien teilzunehmen, vor. Bei Gewichtsabnahmen seien dagegen auch „Rückstufungen“ möglich. Ergänzt würde die Behandlung durch weitere Bausteine wie z. B. körperbezogene Interventionen.
Um den stationären Behandlungserfolg zu stabilisieren, sei ein nahtloser Übergang in eine ambulante psychotherapeutische Weiterbehandlung wünschenswert. Dies scheitere leider häufig an zu langen Wartezeiten bei den niedergelassenen Psychotherapeuten.
Ambulantes Netzwerk „NEO“
Dass eine intensive Essstörungsbehandlung auch ambulant erfolgen kann, zeigte Annegret Drescher, die das Netzwerk Essstörungen Ostalbkreis (NEO) in Baden-Württemberg vorstellte. In dem integrierten Versorgungsvertrag werden Patientinnen mit Magersucht, Bulimie und Binge-Eating-Störung behandelt. An dem Versorgungsnetzwerk nehmen Beratungsstellen, Hausärzte, Psychologische und ärztliche Psychotherapeuten sowie drei Kliniken teil.
Die erste Kontaktaufnahme und Behandlungsmotivation erfolge in der Regel niedrigschwellig durch die Beratungsstellen im Landkreis, schilderte Drescher. Daran schließe sich ein ambulantes Behandlungskonzept mit gestufter Intensität an. Der Schwerpunkt liege dabei auf der Gruppenpsychotherapie, die durch Einzelgespräche, komplementäre Therapien, wie z. B. körpertherapeutische Interventionen, Ernährungsberatung und Familiengespräche, ergänzt würde.
Bisher hätten 84 Patientinnen die Behandlung mit guten Erfolgen durchlaufen. „NEO“ zeige, dass eine ambulante, multimodale Behandlung funktioniere und insbesondere im ländlichen Raum ein wichtiges Versorgungsangebot sei.
Forum für Essstörungen Wiesbaden
Ein weiteres ambulantes und integriertes Versorgungskonzept stellte anschließend Dr. Doris Weipert vor. Seit mehr als 25 Jahren behandele sie Patientinnen mit einem mehrdimensionalen Behandlungskonzept. Dazu gehörten neben Einzel- und Gruppenpsychotherapie auch Ernährungsberatung, Körperbewusstseinstraining, Kunsttherapie und Angehörigengespräche. Damit eine ambulante multimodale Behandlung funktionieren könne, seien eine gute Vernetzung und eine verlässliche medizinische Mitbetreuung wichtige Voraussetzungen, so Weipert.
Von circa 2.500 Patientinnen, die seit Gründung des Forums behandelt worden seien, hätten knapp zwei Drittel (63 Prozent) die Behandlung abgeschlossen. Die durchschnittliche Anzahl von Therapiesitzungen liege bei 25 Sitzungen, was der Länge einer Kurzzeitpsychotherapie entspreche – ein durchaus bemerkenswertes Ergebnis, da doch häufig angenommen würde, dass die Behandlung von Essstörungen besonders lange Therapiedauern erfordere. Mehr als die Hälfte der Patientinnen (54 Prozent), die die Behandlung abgeschlossen hätten, erfüllten nicht mehr die Kriterien für eine Essstörung. Vor dem Hintergrund, dass Essstörungen häufig keine gute Prognose hätten, sei dies ein guter Behandlungserfolg.
Diskussion
In der Abschlussdiskussion wies Prof. von Wietersheim noch einmal darauf hin, dass Heilung nicht für alle Patientinnen mit einer Essstörung erreichbar sei. Bei ungefähr einem Drittel der Patientinnen verlaufe die Essstörung chronisch, weshalb in der Fachwelt auch diskutiert werde, welche Angebote man für diese Patientinnen machen könne. Einig waren sich alle Referenten, dass eine vernetzte, koordinierte und spezifische Behandlung bei diesen Patientinnen notwendig sei. Die Behandlung von Essstörungen habe in den letzten Jahrzehnten erhebliche Fortschritte gemacht. Mittlerweile gebe es ambulante, teilstationäre und stationäre Strukturen zur Versorgung von Essstörungen und zahlreiche auf die Behandlung von Essstörungen spezialisierte Einrichtungen. Dringend notwendig sei aber auch mehr Versorgungsforschung, um auch gegenüber den Kostenträgern argumentieren zu können, dass sich diese intensiven Behandlungen rechnen.
Veröffentlicht am 04. Juli 2012