BPtK-Position zur Prävention von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung

Gefährdete Familien brauchen multiprofessionelle Netzwerke, die psychosoziale Notlagen früh erkennen und Kindesmisshandlung und -ver- nachlässigung verhindern. "Eltern zur Früherkennung zu verpflichten, ist ein eine Idee, die praktisch mehr schadet als nutzt", erklärte Prof. Dr. Rainer Richter, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) anlässlich einer Bundesratsinitiative zu einem "verbindlichen Einladungswesen" für die U1- bis U9-Untersuchungen (BR-Drs. 56/06).Ein solches Kontrollsystem sei fehleranfällig und könnte beispielsweise auch Eltern erfassen, die einfach nur den Arzt oder die Krankenkasse gewechselt haben, aber die Früherkennungsangebote angenommen hätten. Anderseits gelänge es Eltern, die ihre Kinder verwahrlosen lassen oder misshandeln, die Untersuchungstermine so zu legen, dass ihre Kinder ausreichend symptomfrei beim Kinderarzt erscheinen."Was wir brauchen sind bessere Instrumente in der Früherkennung und vor allen Dingen mehr als Früherkennung", stellte BPtK-Präsident Richter fest. "Eltern brauchen früh Hilfen, die eine Eskalation von kritischen familiären Situationen auffangen." Grundidee ist eine stärkere Vernetzung der verschiedenen Beteiligten (Gynäkologen, Geburtskliniken, Hebammen, ÖGD, Jugendhilfe, Kinderärzte sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten) und eine höhere Verbindlichkeit beim Austausch von Informationen. Die BPtK unterstützt alle Initiativen, die solche Frühwarnsysteme aufbauen, ausdrücklich.Ein Frühwarnsystem allein reicht allerdings nicht aus. Wenn Kindesmisshandlung,-vernachlässigung oder -verwahrlosung erfasst werden, müssen auch kurzfristig Hilfsangebote, z. B. bei der kommunalen Erziehungsberatung, verfügbar sein. Gerade in der Familienberatung haben aber die Bundesländer in den vergangenen Jahren massive Einsparungen vorgenommen und die finanziellen Ressourcen von Erziehungs- und Familienberatungsstellen erheblich gekürzt. Dabei nahmen Familien diese Beratungsstellen in den vergangenen Jahren immer häufiger in Anspruch: Von 2001 bis 2004 stieg die Zahl der Beratungen in Nordrhein-Westfalen um rund 12.500 auf insgesamt knapp 110.000 Fälle. Dies entspricht einem Zuwachs von rund 13 Prozent. Eine Reform innerhalb der gesetzlichen Krankenkassen allein reicht deshalb nicht aus. "Länder und Kommunen sollten ihren Verpflichtungen im Öffentlichen Gesundheitsdienst und insbesondere in der Jugendhilfe nachkommen und sich wieder stärker engagieren", forderte der BPtK-Präsident.Umgekehrt sollten in der gesetzlichen Krankenversicherung die erforderlichen Behandlungen sichergestellt sein. Dazu ist der dramatischen Unterversorgung von Kindern und Jugendlichen entgegenzuwirken. Jedes zwanzigste Kind in Deutschland braucht eine psychotherapeutische Behandlung. Ein dünnes Netz niedergelassener Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten führt jedoch in ganz Deutschland und insbesondere in ländlichen Gebieten und in Ostdeutschland zu langen Wartelisten und langen Anfahrtswegen. "Gerade in der Entwicklung von Kindern sind Wartezeiten von mehreren Monaten inakzeptabel, da sonst aus Entwicklungsrisiken Risikoentwicklungen werden", begründete Richter.

Integration von Merkmalen der psychosozialen und kognitiven Entwicklung in die U1 bis U9-Früherkennung,

Einsatz von psychosozialen Screening-Instrumenten, mit denen hyperkinetische Störungen, Störungen des Sozialverhaltens und Entwicklungsstörungen der Sprache und des Sprechens zu erfassen sind,

zusätzliche Untersuchungen im öffentlichen Gesundheitsdienst: Eine weitere Früherkennungsuntersuchung zum Ende des dritten Lebensjahres (Beginn des Kindergartens) könnte frühzeitig Defizite in der kognitiven und Sprachentwicklung sowie Auffälligkeiten der sozial-emotionalen Entwicklung erkennen. Eine weitere Untersuchung zwischen dem siebten und achten Lebensjahr könnte wiederum Krisen in den ersten Schuljahren erfassen.

differentialdiagnostische Qualifikationen von Psychotherapeuten nutzen, insbesondere bei Risikokindern,

motivierende Information: Damit die Teilnahmequoten an den Früherkennungsuntersuchungen erhöht werden können, ist neben einer Einladung für anstehende Untersuchungen auch eine bessere Information der Eltern notwendig. Den Familien sollte aufgezeigt werden, dass ihnen Beratung und Hilfen angeboten werden, wenn ihre Kinder gefährdet oder krank sind. Es sollte insbesondere deutlich werden, wie hilfreich solche Angebote für andere Familien bereits waren.

Veröffentlicht am 01. Juni 2006