60 Prozent der Heimkinder psychisch krank
BPtK-Tagung zur stationären Jugendhilfe
Bis zu 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe leiden Studien zufolge unter einer psychischen Störung. Die häufigsten Diagnosen sind Störungen des Sozialverhaltens (26 Prozent) und hyperkinetische Störungen des Sozialverhaltens (22 Prozent), gefolgt von Depressionen (10 Prozent). Dabei erfüllen fast die Hälfte der Kinder (47 Prozent) die Kriterien für mehr als eine Diagnose. Außerdem sind Kinder und Jugendliche in der stationären Jugendhilfe sehr häufig aufgrund von traumatischen Erlebnissen belastet – einer Studie nach berichteten 81 Prozent von mindestens einem traumatischen Erlebnis in der Vergangenheit. „Psychotherapie muss deshalb stärker zu einem integralen Angebot der stationären Jugendhilfe werden“, so das Fazit der Bundespsychotherapeutenkammer auf dem Workshop zur „Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher in der stationären Jugendhilfe“ am 4. April 2011. „Heime sind heute keine reinen ‚Fürsorgeeinrichtungen‘ mehr, sondern durch psychotherapeutische und andere Professionalisierungen zu Behand-lungseinrichtungen geworden, stellte Johannes Broil, Mitglied des BPtK-Ausschusses „Psychotherapie in Institutionen“, fest. Dennoch seien die Angebote der stationären Jugendhilfe sehr heterogen. Ziel der Veranstaltung, die vom BPtK-Ausschuss initiiert worden war, war es deshalb auch, einen Überblick zu geben und eine Art Standort- und Standardbestimmung vorzunehmen.
Routinemäßiges Screening erforderlich
Dr. Marc Schmid von der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik der Universität Basel wies darauf hin, dass viele gefährdete Kinder und Jugendliche durch den Ausbau der ambulanten Hilfen in den letzten Jahren ambulant versorgt werden könnten. Dies führe allerdings dazu, dass die Indikationsstellung für die stationäre Jugendhilfe nur bei schlechter Prognose, bestehender Kindeswohlgefährdung oder bereits gescheiterten ambulanten Hilfen gestellt werde. Die Aufnahme in die stationäre Jugendhilfe erfolge dadurch häufig erst in oder nach der Pubertät, wenn die Bindungsentwicklung nicht mehr an pädagogische Bezugspersonen, sondern eher an Gleichaltrige erfolge. Dies wiederum erschwere den Aufbau einer tragfähigen Beziehung und reduziere insgesamt die Wirksamkeit der stationären Maßnahmen. Die Strukturen der stationären Jugendhilfe würden diesen erhöhten Anforderungen aber nur teilweise gerecht. Studien zufolge erhielten nur rund die Hälfte der Kinder und Jugendlichen mit der Diagnose einer psychischen Erkrankung eine spezifische psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung. Die hohe psychische Belastung der meisten Kinder und Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe rechtfertige ein routinemäßiges Screening auf psychische Störungen bei jedem aufgenommenen Kind und begründe die Forderung, neben dem erzieherischen Angebot auch eine psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung in jeder Einrichtung der stationären Jugendhilfe vorzuhalten, so Schmid.
Integration der psychotherapeutischen Behandlung sinnvoll
Wie breit gefächert das Angebot der stationären Jugendhilfe sein kann, zeigte Heinrich Hölzl, Geschäftsführer der Stiftung „Die Gute Hand“ und Direktor des heilpädagogisch-psychotherapeutischen Zentrums der „Guten Hand“ in Kürten-Biesfeld. Die Angebote der stationären Jugendhilfeeinrichtung „Die Gute Hand“ reichten von therapeutischen Intensivgruppen, heilpädagogischen Wohngruppen über Familienwohngruppen hin zu Angeboten für Berufsorientierung, -qualifizierung und Integration in Arbeitsprozesse. Sowohl in den Entgelten für die therapeutischen Intensiv- als auch die heilpädagogischen Wohngruppen seien psychotherapeutische Behandlungsleistungen enthalten. So seien in den heilpädagogischen Wohngruppen zwei Stunden Therapie pro Woche und vier Stunden Eltern- und Familienarbeit pro Monat Standard. In den Intensivwohngruppen seien es sogar fünf Stunden Behandlung pro Woche, davon zwei bis drei Stunden Psychotherapie, und zehn Stunden Eltern- und Familienarbeit pro Monat. Der Erfolg gibt diesem Modell recht. Bei der fallübergreifenden Wirkungsmessung, ein Instrument zur Evaluation der Effekte der stationären Jugendhilfe, zeigten sich beispielsweise konstant Verbesserungen auf der Child Behavior Checklist. Die Veränderungen liegen mit einer Effektstärke von durchschnittlich 0,47 im mittleren Bereich. Gemäß dem Grundsatz „Voneinander lernen, miteinander handeln“ sprach sich Heinrich Hölzl am Ende seines Vortrages für einen fruchtbaren Dialog und eine gute Zusammenarbeit zwischen den pädagogischen und psychotherapeutischen Fachdisziplinen in der stationären Jugendhilfe aus.
Kooperation mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Eine andere Möglichkeit, die Behandlung psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher in der stationären Jugendhilfe sicherzustellen, ist eine enge Kooperation mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie. „Kinder und Jugendliche in der stationären Jugendhilfe brauchen Erziehung und Therapie“, so Prof. Dr. Lutz Goldbeck von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in Ulm, der in seinem Vortrag schilderte, wie dies funktionieren könne. In der Ulmer Heimkinder-Interventionsstudie seien Kinder und Jugendliche in der stationären Jugendhilfe von aufsuchenden Teams ambulant betreut worden. Jedes Kind sei auf psychische Auffälligkeiten hin gescreent und bei Bedarf fortlaufend behandelt worden. Die Versorgung sei interdisziplinär und multimodal ausgerichtet gewesen, neben der Behandlung der betroffenen Kinder und Jugendlichen seien die Mitarbeiter der Jugendhilfeeinrichtungen trainiert worden. Mit einem zweistufigen Modell zur Krisenintervention, die nach Möglichkeit ambulant erfolgte, sei es gelungen, die stationären Behandlungstage in der Interventionsgruppe um 50 Prozent gegenüber der Kontrollgruppe zu reduzieren. Eine niedrigschwellige, jugendpsychiatrische/psychotherapeutische und vor allem aufsuchende Behandlung verstärke die positiven Effekte der Jugendhilfe und könne dazu beitragen, dass psychisch schwer beeinträchtigte Jugendliche im Rahmen der Jugendhilfe pädagogisch betreut werden können. Dass die Hilfen aufsuchend seien, sei umso wichtiger, da es häufig um die Versorgung nicht „wartezimmerfähiger“ Patienten gehe, für die die üblichen Komm-Strukturen der ambulanten Praxen eine zu hohe Hürde darstellten.
Leistungen nach SGB V und SGB VIII
Einen Überblick darüber, wie Psychotherapie als Leistung der Jugendhilfe aus rechtlicher Sicht integriert werden kann, gab Prof. Dr. Reinhard Wiesner, ehemals Referatsleiter im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und nun im Ruhestand. Die Leistungen der Jugendhilfe im Rahmen des SGB VIII böten an mehreren Stellen Möglichkeiten, Psychotherapie zu integrieren. Neben den bekannten Paragraphen 27 (Hilfe zur Erziehung) und 35a (Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche) auch im Rahmen von Krankenhilfe (§ 40) oder Hilfen für junge Volljährige (§ 41). Um im Einzelfall zu entscheiden, ob Psychotherapie von der gesetzlichen Krankenversicherung oder im Rahmen der Jugendhilfe zu finanzieren ist, komme es letztlich auf den Zweck an, zu dem das Verfahren eingesetzt werde. Durch die Jugendhilfe ist Psychotherapie dann zu finanzieren, wenn es um die Wiederherstellung der Erziehungsfähigkeit geht. Für eine flächendeckend bessere Integration von Psychotherapie in der Jugendhilfe bedürfe es sowohl strukturell verankerter Kooperationen – z. B. zwischen Krankenkassen und Trägern der Jugendhilfe – als auch besserer individueller Kooperationen, die bspw. durch eine gesetzlich verankerte Kooperationspflicht oder die Bildung von Komplexleistungen gefördert werden könnten.
Pädagogisch-therapeutisches Gesamtkonzept
Ein weiteres Beispiel für die gelungene Versorgung von Heimkindern mit psychischen Störungen stellte Dr. Norbert Beck vom Überregionalen Beratungs- und Behandlungszentrum (ÜBBZ) Würzburg vor. Er plädierte noch einmal dafür, kinder- und jugendpsychiatrische sowie psychotherapeutische Leistungen in ein pädagogisch-therapeutisches Gesamtkonzept zu integrieren und diese Leistungen nicht „einzukaufen“. „Therapie findet auch im Sinne eines therapeutischen Milieus statt“, so Beck. Damit auch in Zukunft ausreichend psychotherapeutische Kompetenz in der Jugendhilfe vorhanden sei, müsse dieses Arbeitsfeld für Psychotherapeuten (noch) bekannter werden. Hierfür sei es wichtig, dieses Thema schon im Studium – vor allem aber auch in der Therapieausbildung zu verankern.
Diskussion
Unstrittig war unter allen Beteiligten, dass Psychotherapie ein wichtiger Bestandteil der Leistungen der stationären Jugendhilfe sei bzw. sein müsse. Dabei hätten sowohl Modelle, in denen diese Leistungen von der Jugendhilfe selbst erbracht würden, als auch Modelle, in denen diese Leistungen konsiliarisch, aber aufsuchend erbracht würden, Vorteile. Entscheidend sei, dass alle Beteiligten „Psychotherapie“ nicht nur auf das Therapiezimmer des Therapeuten beschränkt verstehen würden, sondern auch als Milieutherapie und als Unterstützung der pädagogischen Fachkräfte in den Einrichtungen. Nur wenn alle mit ihren Mitteln an einem Strang ziehen und pädagogische und psychotherapeutische Inhalte sich ergänzen würden, könnte man die besten Effekte erreichen.
Ob bundesweite Regelungen zur Finanzierung dieser Leistungen angestrebt oder vielmehr auf kommunaler Ebene passgenaue Lösungen für die jeweiligen Strukturen gefunden werden sollten, mochten die Beteiligten nicht abschließend beurteilen. Die BPtK appellierte jedenfalls, sich auf Bundesebene auch weiterhin für eine bessere Kooperation der Jugendhilfe und der psychotherapeutischen Leistungserbringer einzusetzen. Weitere Chancen bietet Psychotherapie als integraler Bestandteil der stationären Jugendhilfe. Dieses Arbeitsfeld ist bei angehenden Psychotherapeuten ins Blickfeld zu bringen. Eine Möglichkeit wäre es, stationäre Jugendhilfeeinrichtungen in Zukunft auch als Ort der praktischen Psychotherapieausbildung anzuerkennen.
Veröffentlicht am 06. Mai 2011