Bessere psychotherapeutische Versorgung von Migranten
BPtK-Symposium am 7. Oktober in Berlin
Die psychotherapeutische Versorgung von Migranten in Deutschland ist mangelhaft. Es fehlt an spezifischen Informationen und Angeboten für Migranten, an interkultureller Kompetenz im Gesundheitssystem und auch an Psychotherapie in der Muttersprache. Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) veranstaltete deshalb am 7. Oktober 2010 in Berlin ein Symposium zur psychotherapeutischen Versorgung von Migranten.
Im Zeitalter der Globalisierung migrieren immer mehr Menschen in andere Länder. Das deutsche Gesundheitssystem steht vor der Herausforderung, sich auf diese gesellschaftliche Entwicklung einzustellen. In Deutschland leben 6,7 Millionen Menschen mit ausländischem Pass. Dies entspricht einem Anteil von ca. acht Prozent der Bevölkerung. 19 Prozent der Bevölkerung (15,6 Millionen Menschen) haben einen Migrationshintergrund, d. h. mindestens ein Elternteil ist immigriert.
Eine Re-Analyse des Bundesgesundheitssurveys zeigt höhere Prävalenzraten psychischer Erkrankungen bei Migranten im Vergleich zu Einheimischen. Speziell bei Depressionen und somatoformen Störungen liegen bei Migranten signifikant erhöhte Prävalenzzahlen vor (affektive Störungen, 12-Monatsprävalenz: 17,9 Prozent vs. 11,3 Prozent; somatoforme Störungen 19,9 Prozent vs. 10,3 Prozent). Die Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) zeigen bei Kindern von Migranten ebenfalls erhöhte Prävalenzen von Verhaltensauffälligkeiten (21,3 Prozent vs. 13,5 Prozent) oder Essstörungen (30,3 Prozent vs. 20,2 Prozent).
BPtK-Präsident Prof. Dr. Rainer Richter zeigte sich in seiner Einführung erfreut darüber, dass das Thema in der politischen und fachlichen Diskussion immer mehr Aufmerksamkeit erhält. Im Gesundheitssystem müssten Barrieren abgebaut werden, um eine frühzeitige, bedarfsgerechte Inanspruchnahme psychotherapeutischer Leistungen sicherzustellen. Richter erläuterte die Vorschläge der BPtK zur besseren psychotherapeutischen Versorgung von Migranten:
Informationen zu psychischen Erkrankungen und psychotherapeutischer Versorgung sollten u. a. bei den kommunalen Ausländerbehörden vorliegen und mehrsprachig gestaltet sein.
Grundsätzlich sollte die interkulturelle Kompetenz in Behörden, aber vor allem im Gesundheitswesen verbessert werden. Zusätzlich könnte der Gesetzgeber interkulturelle Kompetenz in den Gegenstandskatalog zur Ausbildungs- und Prüfungsverordnung der Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten aufnehmen.
Voraussetzung einer gelingenden Psychotherapie ist u. a. die sprachliche Verständigung. Daher sollte Migranten, die nicht hinreichend Deutsch sprechen, eine muttersprachliche Psychotherapie angeboten werden. Bei einer entsprechenden regionalen Konzentration kann dies über das Instrument des lokalen Sonderbedarfs gewährleistet werden. Für seltene Sprachen bzw. bei einer breiten regionalen Streuung der Wohnorte ist zu prüfen, inwieweit muttersprachliche Psychotherapie im Rahmen der Kostenerstattung nach § 13 SGB V gewährleistet werden kann. Sind muttersprachliche Psychotherapeuten (d. h. Psychotherapeuten mit spezifischen Sprachkenntnissen in der Sprache des Migranten) mit einer dem deutschen Gesundheitssystem angemessenen Qualifikation nicht verfügbar, sollte auf speziell qualifizierte Dolmetscher zurückgegriffen werden. In diesen Fällen sollte der Einsatz von Dolmetschern eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) werden.
Georg Classen vom Flüchtlingsrat Berlin präsentierte die juristischen Grundlagen für Psychotherapie bei Menschen mit Migrationshintergrund. Zentrale Verbesserungspunkte seien, dass die Sprachkompetenz von Psychotherapeuten bei ihrer GKV-Zulassung berücksichtigt wird, Dolmetscher- und Fahrtkosten von der GKV übernommen werden, die Eingliederungshilfe unterstützende Hilfe durch sprachkompetente Fachkräfte gewährt, das Deutschenprivileg im Psychotherapeutengesetz gestrichen und das Asylbewerberleistungsgesetz reformiert wird, das gesundheitliche Leistungen für Asylbewerber maßgeblich einschränkt. Darüber hinaus sei es wichtig, "krankmachende gesetzliche Restriktionen", wie Residenzpflicht, Sammellager, Sachleistungsversorgung oder Arbeits- und Ausbildungsverbote, abzuschaffen.
Dr. Maria Gavranidou vom Referat für Gesundheit und Umwelt der Landeshauptstadt München beschrieb die Notwendigkeit interkultureller Kompetenz. Sie schilderte anhand zahlreicher Beispiele, dass allgemeine psychotherapeutische Fertigkeiten, wie Empathie, positive Wertschätzung des Patienten oder ein Gespür für angemessenes Handeln, wesentliche Bestandteile interkulturell kompetenten Handelns sind. Ganz besonders wichtig sei die Bereitschaft, die Kulturabhängigkeit eigener Wertvorstellungen und Normen zu hinterfragen. Oft werde in der Therapie von Migranten nicht differenziert, ob die Schwierigkeiten auf die Migration, unterschiedliche Kulturen oder die soziale Schicht des Klienten zurückzuführen sind. Interkulturelle Kompetenz werde aktuell nicht ausreichend in der psychologisch-psychotherapeutischen Fachwelt diskutiert und auch nicht honoriert.
Sibel Koray, Psychologische Psychotherapeutin vom Jugendpsychologischen Institut der Stadt Essen, referierte zur Praxis der Erziehungsberatung für Familien mit Migrationshintergrund. Sie betonte, wie nachhaltig der institutionelle Kontext das erfolgreiche Arbeiten mit Kindern und Jugendlichen im Bereich der Erziehungsberatung beeinflusse. Dabei müssten migrantenspezifische Aspekte auf verschiedenen Ebenen berücksichtigt werden: z. B. bei der räumlichen Gestaltung der Einrichtung, dem Leitbild der Organisation, der Anmeldung, der Gestaltung des Erstgesprächs, der Vernetzung mit anderen Organisationen. Wichtig sei auch, dass die Rückmeldungen von Mitarbeitern und Klienten mit Migrationshintergrund von der Organisation ausgewertet und berücksichtigt werden.
Peter Lehndorfer, Vorstandsmitglied der BPtK, berichtete, dass in den meisten deutschen Städten mittlerweile mehr als die Hälfte der Kinder unter sechs Jahren einen Migrationshintergrund aufweist. Die erhöhte Prävalenz psychischer Auffälligkeiten unter Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund sei in vielen Fällen vor allem eine Folge der sozialen Schichtzugehörigkeit, da viele Migranten in Deutschland ein niedriges Einkommen und niedrige Bildungsabschlüsse hätten. Eine kultursensitive Haltung sei dennoch eine wichtige Voraussetzung für die Therapie dieser Kinder und Jugendlichen. Um einen möglichst frühzeitigen Zugang zum Gesundheitssystem zu gewährleisten, unterstrich Lehndorfer die Forderung der BPtK, Screenings zu psychischen Auffälligkeiten bei Schuleingangs- und Vorsorgeuntersuchungen zur Mitte und zum Ende der Grundschulzeit einzuführen.
Dr. Meryam Schouler-Ocak, Oberärztin an der Charité in Berlin, präsentierte Daten zur stationären psychiatrischen Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund. Auch dort bestehen oft sprachliche Hürden sowie diagnostische und therapeutische Unsicherheiten aufgrund des anderen kulturellen Hintergrunds. Umfrageergebnisse wiesen auf eine Fehlversorgung hin: So sei der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in forensischen Abteilungen deutlich erhöht, in Abteilungen für Psychotherapie und Psychosomatik verringert. Langfristige Ziele seien die Entwicklung und der Ausbau bedarfsorientierter psychotherapeutischer Behandlungskonzepte für Migranten in ambulanten, teil- und vollstationären sowie komplementären Bereichen im Sinne der interkulturellen Öffnung aller Institutionen der medizinischen und psychosozialen Versorgung.
Cinur Ghaderi, Psychologische Psychotherapeutin vom Psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge in Düsseldorf, berichtete, dass ein hoher Prozentsatz der Flüchtlinge an psychischen Erkrankungen infolge von traumatischen Erlebnissen leide. Dabei handele es sich nicht nur um Posttraumatische Belastungsstörungen, sondern z. B. auch um dissoziative Störungen oder Depressionen. Trotz oft geäußerter Skepsis sei psychotherapeutisches Arbeiten mit Flüchtlingen sehr wohl möglich. Sie schilderte anhand mehrerer Beispiele die psychotherapeutische Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen. Vielfach gehe es darum, einen Suizid des Patienten zu verhindern, die Symptome der Erkrankung "zu managen" und präventive Maßnahmen mit Familienangehörigen durchzuführen. Es sei wichtig, nicht nur die traumatischen Erlebnisse therapeutisch zu bearbeiten, sondern auch am Schicksal der Menschen Anteil zu nehmen und dies zu würdigen.
In der Plenumsdiskussion mit Angelika Graf (MdB, SPD) und Stefanie Vogelsang (MdB, CDU/CSU) sahen beide Bundestagsabgeordneten die Notwendigkeit, die psychotherapeutische Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund zu verbessern. Graf betonte, dass in der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund vor allem drei Aspekte höchste Priorität haben: die Verankerung kultursensibler Inhalte in der Ausbildung der Gesundheitsberufe, die Erleichterung des Zugangs von Menschen mit Migrationshintergrund zu ärztlichen, psychotherapeutischen und pflegerischen Berufen und die Schaffung von mehreren Anlaufstellen im Gesundheitssystem, an die sich Migranten wenden könnten. Vogelsang stimmte dem im Wesentlichen zu und fügte an, dass für Migranten vor allem der Zugang zum Gesundheitssystem erleichtert werden müsse.
Beide Politikerinnen sahen zwar die fachliche Notwendigkeit, Dolmetscher im Gesundheitssystem einzusetzen, äußerten aber ihre Skepsis, ob diese Forderung umgesetzt werden könne, da aktuell unklar sei, wie dies finanziert werden könne. Regionale Spezialisierungen und die Förderung mehrsprachiger Therapeuten auch über eine lokale Sonderbedarfszulassung, wie sie von der BPtK vorgeschlagen wurde, seien jedoch ein gangbarer Weg. Stefanie Vogelsang betonte ausdrücklich die Unterstützung dieses Vorschlags. Sie wolle sich "in eineinhalb Jahren daran messen lassen, ob dieses Ziel erreicht worden sei".
Graf wies darauf hin, dass gemäß der Prämisse "ambulant vor stationär" die Barrieren für Migranten vor allem im ambulanten Bereich gesenkt werden müssten. Es müsse mehr Beratungsangebote geben. Der Schlüssel liege in der Förderung von zweisprachigem Personal in diesem Sektor. Sie sei - wie auch Frau Vogelsang - nicht der Meinung, dass eine Sonderbedarfszulassung separatistische Tendenzen bei den betroffenen Menschen unterstützen würde. Graf führte aus, dass Forschung zu Migration und Integration ein Schwerpunkt werden müsse. Sie befürworte die Förderung von Modellprojekten zur Gesundheitsversorgung von Menschen mit Migrationshintergrund. Auch Frau Vogelsang wies darauf hin, dass Versorgungsforschung in diesem Bereich wichtig sei, z. B. um weitere Erkenntnisse zu gewinnen, an welcher Stelle präventive Maßnahmen ansetzen müssten, um erfolgversprechend zu sein. Prävention müsse passgenau erfolgen.
BPtK-Präsident Richter fasste in seinem Schlusswort zusammen, dass interkulturelle Kompetenzen eine Basisqualifikation der Psychotherapeuten seien, die durch Kenntnisse des kulturellen Hintergrunds ergänzt werden. Aufgrund der zentralen Bedeutung der Sprache für Psychotherapie und den besprochenen Lösungsvorschlägen sei es darüber hinaus wichtig, die Krankenkassen in diese Debatte mit einzubeziehen.
Downloads
- BPtK-Standpunkt "Reformbedarf in der psychotherapeutischen Versorgung von Migranten"
0.4 MB
- Web-Bericht der BPtK
0.1 MB
- Vortrag von Prof. Dr. Rainer Richter, BPtK
0.4 MB
- Vortrag von Georg Classen, Flüchtlingsrat Berlin
0.3 MB
- Vortrag von Georg Classen - Die Finanzierung ambulanter Psychotherapien für Flüchtlinge
0.5 MB
- Dr. Maria Gavranidou, Referat für Gesundheit und Umwelt der Landeshauptstadt München
1.5 MB
- Sibel Koray, Jugendpsychologisches Institut der Stadt Essen
2.7 MB
- Peter Lehndorfer, BPtK
1 MB
- Dr. Meryam Schouler-Ocak, Charité Berlin
2.2 MB
- Cinur Ghaderi, Psychosoziales Zentrum für Flüchtlinge Düsseldorf
0.2 MB
Veröffentlicht am 01. November 2010