BPtK-Expertengespräch
Entgeltpauschalen in Psychiatrie und Psychosomatik
Am 27. April 2009 hat die BPtK ein Expertengespräch zu Entgeltpauschalen in der Psychiatrie und Psychosomatik veranstaltet. Hintergrund ist das Krankenhausfinanzierungsreformgesetz (KHRG), mit dem der Gesetzgeber den Startschuss zur Entwicklung pauschalierender und leistungsbezogener Entgelte für die stationäre Behandlung von psychischen Krankheiten gegeben hat.
In der Schweiz begann die Entwicklung eines leistungsbezogenen Entgeltsystems für die Psychiatrie bereits im Herbst 2005, Österreich wendet schon seit Längerem leistungsbezogene Diagnosefallgruppen auch in der Psychiatrie an. Mit dem Ziel von den Erfahrungen und Systemen beider Länder zu lernen, waren deshalb Experten aus der Schweiz und Österreich eingeladen, ihre Modelle vorzustellen.
Kostenhomogene Patientengruppen
Voraussetzung für die Kalkulation von Fallpauschalen ist, dass sich Patientengruppen bilden lassen, deren Behandlungskosten möglichst homogen sind. Prof. Dr. Wulf Rössler von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich berichtete, dass nach empirischen Studien die Länge eines stationären Aufenthaltes in der Psychiatrie weitgehend unabhängig von der Diagnose des Patienten sei. Die Einteilung von Patienten in Diagnosegruppen ergebe deshalb keine Gruppen mit gleichmäßigen Behandlungskosten. Auch der Versuch, statt Diagnosen Syndrome zu erfassen, die den Schweregrad einer Erkrankung besser abbilden (AMDP-System), führe nur zu unbefriedigenden Ergebnissen. Man müsse sich fragen, ob nicht vielmehr andere Faktoren für die Dauer und vor allem auch für die hohen Wiederaufnahmeraten in der Psychiatrie verantwortlich seien. Rössler erläuterte, dass das Risiko von schizophrenen Patienten, einen Rückfall zu erleiden und wieder einer stationären Behandlung zu bedürfen, in den ersten vier Wochen nach Entlassung am höchsten sei. Es vergrößere sich insbesondere, wenn Patienten sich nicht an die ärztlich empfohlene Medikamenteneinnahme hielten oder nicht sozial integriert seien.
Vor dem Hintergrund der erfolglosen empirischen Versuche, Kriterien zur Unterscheidung kostenhomogener Gruppen von psychisch kranken Patienten zu finden, stellte Rössler die Frage, ob die Länge des stationären Aufenthaltes normativ festgesetzt werden sollte. Empirische Untersuchungen zeigten, dass sich die Gesundheit eines Patienten nur noch wenig verbessere, wenn er länger als 15 bis 30 Tage stationär behandelt wird.
Rössler schloss seinen Vortrag mit der Forderung, den Patienten und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt der Struktur- und Finanzreformen in der Psychiatrie zu stellen. Eine ambulante Behandlung sei einer stationären vorzuziehen und zwischen den Sektoren eine kontinuierliche Behandlung zu gewährleisten. Ein Blick nach England lohne sich: Dort sei das Prinzip des Community Treatment flächendeckend umgesetzt worden, bei dem der Patient stationär wie ambulant von demselben Behandlungsteam betreut werde. Wolle man die psychiatrische Versorgung stärker an solchen Konzepten ausrichten, müsse man allerdings über die Einführung von Kopf- anstatt Fallpauschalen diskutieren.
Bern: Psych-PV als Basis
Martin Rumpf, Projektleiter in der Gesundheits- und Fürsorgedirektion Bern, stellte in seinem Vortrag die Finanzierung der Psychiatrie im Kanton Bern vor. Dort ermittele man auf der Basis der deutschen Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV) leistungsbezogene Pflegetagpauschalen (LPP) - also Pauschalen pro Tag und Behandlungsbereich. Auch in Bern unterschieden sich ursprünglich die Behandlungskosten zwischen verschiedenen Kliniken erheblich. Zentrales Ziel sei es deshalb gewesen, eine gerechte Verteilung der finanziellen Ressourcen zwischen den Spitälern herzustellen.
Die Anforderungen an das neue Finanzierungssystem in der Psychiatrie waren einfache Handhabung, Transparenz, Akzeptanz, Systemverträglichkeit und ein geringer Umsetzungsaufwand. Die LPP setzen sich zum einen aus Leistungspauschalen zusammen, die auf der Grundlage der Psych-PV plus Zuschlägen für Nacht- und Bereitschaftsdienste etc. ermittelt werden, und zum anderen aus einer Grundpauschale, in der die Kosten für die Infrastruktur wie Wäscherei, Transportdienste und andere Sachkosten enthalten sind. Finanziert werden die LPP je zur Hälfte aus Kantonsteuern und Krankenkassenbeiträgen.
Rumpf berichtete, dass es durch die Einführung leistungsbezogener Tagespauschalen in der Psychiatrie zu einer umgehenden Beruhigung der Ressourcenkontroverse gekommen sei, auch weil bei ihrer Entwicklung alle relevanten Akteure einbezogen worden seien. Nachteil des Modells sei jedoch, dass der ambulante Bereich nicht berücksichtigt wurde. Derzeit entwickle der Kanton Bern deshalb ein pauschales Finanzierungsmodul für ambulante Leistungen. Bei der Bewertung des Modells müsse man bedenken, dass in Leistungspauschalen keine "Versorgungslogik" enthalten sei, d. h. dass für versorgungspolitische Ziele, wie eine stärker integrierte und vernetzte Versorgung, durch eine leistungsbezogene Finanzierung keine entsprechenden Anreize gesetzt würden. Die Ziele und Möglichkeiten einer leistungsorientierten Finanzierung lägen vor allem in einer gerechten Verteilung der beschränkten Ressourcen sowie einer fairen Abgeltung der erbrachten Leistungen.
Fallpauschalen je nach Diagnose
Einen anderen Weg der Finanzierung der stationären psychiatrischen Versorgung beschreitet Österreich. Diese stellte Universitätsdozent Prima Dr. Werner Schöny von der oberösterreichischen Gesundheits- und Spitals AG in seinem Vortrag vor. In Österreich seien so genannte leistungsbezogene Diagnosefallgruppen (LDF) eingeführt worden. Die Zuordnung zu den Fallgruppen erfolgte zunächst anhand von Hauptdiagnosen und erbrachten medizinischen Einzelleistungen (MEL). Ursprünglich seien neben den Diagnosen nicht einzelne medizinische Leistungen (z. B. psychotherapeutische Leistungen) für die Eingruppierung in eine Fallgruppe maßgeblich gewesen, sondern zwei umfassende Leistungsziffern: "Therapie psychiatrisch Schwerstkranker" und "Komplexe psychiatrische Therapie". Dabei sei zum einen genau definiert gewesen, für welche Patienten welcher Leistungskomplex erbracht werden konnte, und zum anderen, welche Strukturqualität hierzu notwendig sei. Die Kodierung der entsprechenden Komplexleistungen sollte zu einer besseren Vergütung der Leistungen in der Psychiatrie führen, gleichzeitig aber möglichst wenig manipulationsanfällig sein.
Diesem Anspruch seien die komplexen Leistungsziffern nicht gerecht geworden, berichtete Schöny. Deshalb wurde das Finanzierungsmodell 2009 grundlegend überarbeitet. Um das System weniger manipulationsanfällig zu machen, seien die beiden umfassenden Leistungsziffern wieder gestrichen worden. Stattdessen wurde eine neue Abrechnungseinheit eingeführt, die von allen Abteilungen an Krankenanstalten mit psychiatrischem Vollversorgungsauftrag inklusive Unterbringung oder Abteilungen der psychosomatischen Versorgung abgerechnet werden kann. Definiert sei diese Abrechnungseinheit über eine vorgeschriebene Mindestpersonalausstattung.
Nationale Tarifstruktur für die Gesamtschweiz
Im Herbst 2005 begann auch die Schweiz - ähnlich des aktuellen Prozesses in Deutschland - die Arbeit an einer nationalen, leistungsbezogenen Tarifstruktur für die Psychiatrie (psysuisse), die ab dem Jahr 2012 für alle stationären und teilstationären Psychiatriebehandlungen gelten soll. Deren Eckpunkte stellte Martin Buser, Projektleiter von psysuisse, in seinem Vortrag vor. Zentrales Element des neuen Tarifsystems werde eine landesweit einheitliche Einteilung der Patienten nach Schwergrad der Erkrankungen und Intensität der Behandlung sein.
Als Grundlage für die neue Tarifstruktur sei ein einfach handhabbares und entwicklungsfähiges Raster nötig gewesen, mit dem sich die Patienten einteilen lassen. Aus diesem Grund habe man sich für die deutsche Psych-PV entschieden und diese mit einigen wenigen Änderungen übernommen, berichtete Buser. So seien im Prinzip alle Behandlungsbereiche übernommen worden, wobei der Bereich "Langandauernde Behandlung Schwer- und Mehrfachkranker" zum Behandlungsbereich "Komplexe Therapie" weiterentwickelt wurde. Überlegungen, den Bereich "Psychotherapie" zu streichen, wie es sie wohl in Deutschland gebe, habe es in der Schweiz nicht gegeben, da dieser Behandlungsbereich in der Schweiz einen hohen Stellenwert bei den Patienten habe, was sich auch darin zeige, dass Kliniken, die diesen Behandlungsbereich anbieten würden, stark frequentiert wären. Auf die Benennung der Behandlungsziele sei für das Einteilungsraster verzichtet worden, da diese für ein Tarifsystem nicht relevant und zu allgemein formuliert gewesen seien. Die Minutenwerte für die Berufsgruppen, die den einzelnen Behandlungsbereichen zugeordnet wurden, beruhten in der psysuisse auf durchschnittlichen Ist-Werten, die in den Spitälern ermittelten wurden. Sie ersetzen damit die Soll-Werte der deutschen Psych-PV. In der Intensivbehandlung würden nun für Psychologen/Psychotherapeuten genauso viele Minuten veranschlagt wie für Ärzte, wohingegen in Deutschland die veranschlagten Zeitwerte für Diplom-Psychologen nur fünf Prozent des Zeitwerts für die Ärzte ausmachten.
Die Berechnung der leistungsbezogenen Tagespauschalen erfolge empirisch auf der Grundlage der Daten, die Pilotbetriebe übermittelten. Die Schweiz habe dabei das Glück, erläuterte Buser, dass in den meisten Kliniken bereits eine Kostenträgerrechnung angewandt werde, bei der jede Klinik berufsgruppenspezifisch die Leistungen erfasse, die ein Patient erhalte. Entscheidend für eine möglichst valide Erhebung der Kosten für die verschiedenen Patientengruppen sei es, dass ähnliche Patienten in den verschiedenen Kliniken in den gleichen Behandlungsbereich eingestuft würden. Erste Vorauswertungen zur Eingruppierung der Patienten in die verschiedenen Behandlungsbereiche hätten jedoch ergeben, dass diese erheblich zwischen den verschiedenen Spitälern divergierten. So seien in einer Klinik lediglich 14 Prozent der Patienten als intensiv behandlungsbedürftig eingestuft worden, wohingegen andere Kliniken ungefähr die Hälfte aller Patienten dort einsortierte. Deshalb habe man versucht, einfache und eindeutige Zuordnungsregeln, wie z. B. die Gruppenfähigkeit eines Patienten, zu formulieren, die mit einem vertretbaren Schulungsaufwand eine verlässliche Eingruppierung der Patienten ermögliche. Nach ihrer Vernehmlassung (Anhörung im Schweizer Gesetzgebungsverfahren) werden diese demnächst unter www.psysuisse.ch veröffentlicht.
Diskussion
Im Mittelpunkt der abschließenden Diskussion stand vor allem die Frage, inwieweit sich die Einführung eines neuen Tarifsystems für die Förderung neuer Versorgungskonzepte in der Psychiatrie nutzen lässt. Die Beteiligten waren sich einig, dass die Versorgung der Patienten im Vordergrund stehen müsse, weshalb die Leistungserfassung und der damit verbundene Dokumentationsaufwand so gering und so einfach handhabbar wie möglich sein müssten. Kritisch angemerkt wurde, dass die Versorgung im ambulanten Bereich bei der Entwicklung der neuen Tarifstrukturen meist nur unzureichend berücksichtigt werde. Wolle man jedoch langfristig eine stärker ambulant und sektorenübergreifend ausgerichtete Versorgung fördern, müsse das im neuen Entgeltsystem auch berücksichtigt werden. Außerdem sei die ausreichende Finanzierung der ambulanten Versorgung in Zukunft sicherzustellen.
Ein Finanzierungssystem, das eine stärker an den Bedürfnissen der Patienten ausgerichtete Versorgung fördere, müsse eine flexible und kontinuierliche Versorgung des Patienten gewährleisten, insbesondere auch seine Berufstätigkeit und seine soziale Integration. Der Vorteil eines solchen Systems sei letztlich die Diagnoseunabhängigkeit. Eine Finanzierungsform, die vor allem die Aspekte Flexibilität und Kontinuität über die Sektoren hinweg berücksichtigen würde, wären beispielsweise Personenbudgets.
Insbesondere bei Globalbudgets stelle sich immer auch die Frage der Qualitätssicherung, die aus Sicht der Kostenträger bisher nur unzureichend implementiert ist. Die stationäre psychiatrische Behandlung ähnle für die Krankenkassen derzeit einer "Black Box". Deshalb waren sich im Prinzip alle Beteiligten einig, dass der erste Schritt bei der Entwicklung des neuen Entgeltsystems eine systematische und transparente Erfassung der Leistungen und Abbildung der aktuellen Kosten sein muss. Dies sei auch für die Sicherstellung einer ausreichenden Finanzierung der Psychiatrie erforderlich. Parallel dazu solle aber auf jeden Fall über innovative Versorgungskonzepte nachgedacht werden, die dann bei entsprechender Eignung auch umgesetzt werden könnten. Das zu entwickelnde Tarifsystem müsse deshalb möglichst anpassungs- und entwicklungsfähig gestaltet werden.
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Veröffentlicht am 06. Mai 2009