BPtK-Symposium: Psychotherapierichtlinien auf dem Prüfstand
Hintergrund
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat sich in mehreren Reformschritten zu einer Organisation entwickelt, die ihre Entscheidungen über den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nach Kriterien der evidenzbasierten Medizin trifft. Die im Oktober 2005 in Kraft getretene Verfahrensordnung des G-BA bezieht sich explizit auch auf die Bewertung von psychotherapeutischen Verfahren und Methoden.
Diese Entwicklung machte nun eine Anpassung der Richtlinien unter erheblichem Zeitdruck notwendig, weil im G-BA die längst überfällige Entscheidung zur Gesprächspsychotherapie anhängig ist. Im Schwerpunkt geht es darum, beim ganzheitlichen Ansatz der Psychotherapie zu bleiben und indikationsspezifische Zulassungen für Verfahren zu verhindern. Um dieses zu erreichen, muss der G-BA Anwendungsbereiche für Psychotherapie definieren und anhand des Kriteriums der Versorgungsrelevanz eine Unterscheidung treffen zwischen Verfahren und Methode. Eine Expertenkommission, der neben dem BPtK-Präsidenten Prof. Dr. Rainer Richter auch Prof. Dr. Günter Esser, Prof. Dr. Harald J. Freyberger, Prof. Dr. Sven Olaf Hoffmann und Prof. Dr. Jürgen Hoyer angehörten, erarbeitete Vorschläge für eine Stellungnahme der BPtK an den G-BA. Die Experten stellten ihren Bericht auf einem BPtK-Symposium am 3. April vor.
Zeitdruck und Vertraulichkeit
In seiner Eröffnung des Symposiums kritisierte BPtK-Präsident Prof. Dr. Rainer Richter, dass in Anbetracht der Tragweite und Komplexität der Entscheidungen die Zeit zur Beratung im aktuellen Anhörungsverfahren unzumutbar knapp bemessen gewesen sei. Der G-BA habe allerdings nach § 34 der Verfahrensordnung das Recht, Fristen für die Anhörung zu setzen. Anderseits betrachtete der Gesetzgeber die Heilberufskammern als Sprachrohr der Profession. Den Kammern müsse es deshalb auch möglich sein, die Positionen der Profession zu bündeln und in ihre Stellungsnahme einfließen zu lassen. Vier Wochen seien hierfür definitiv zu wenig. Die G-BA-Fristen seien zu akzeptieren, begrüßen oder nachvollziehen könne die BPtK sie jedoch nicht.
Darüber hinaus beeinträchtigte auch die Vertraulichkeit der Beschlussvorlage des G-BA eine breite, informierte Debatte. Die BPtK hat dieses Postulat der Vertraulichkeit so ausgelegt, dass auf dem Symposium über die zentralen Inhalte der Änderung der Psychotherapierichtlinien diskutiert werden konnte, ohne dass der Anhörungsentwurf in seiner schriftlichen Fassung vorlag. Der BPtK-Vorstand versuche damit, die größtmögliche Transparenz und Partizipation zu ermöglichen.
Für die BPtK gehe es bei der Anpassung der Psychotherapierichtlinie zunächst einmal darum, den wissenschaftlichen Sachstand zu klären. Hierfür habe man die Expertenkommission eingerichtet, die innerhalb kürzester Zeit zentrale Punkte für eine Stellungnahme der Psychotherapeuten an den Gemeinsamen Bundesausschuss erarbeitet habe. Zu kurz kommen dürfe aber auch die professionsspezifische Perspektive nicht. Diese werde eingebracht über die Landespsychotherapeutenkammern und Gespräche mit den Berufs- und Fachverbänden. Zentraler Punkt sei jedoch das Symposium. Hier erhoffe man sich von den Teilnehmern eine intensive Diskussion der Expertenvorschläge, um im Lichte der Diskussion dem Gemeinsamen Bundesausschuss eine Stellungnahme zur Verfügung stellen zu können, die ausgewogen die wissenschaftliche und professionsspezifische Perspektive berücksichtigt.
Randomisierte Studien
In seinem Eingangsreferat befasste sich Prof. Dr. Norbert Schmacke (Universität Bremen) mit der Eignung der Methoden der evidenzbasierten Medizin für die Bewertung psychotherapeutischer Methoden und Verfahren. Dass Psychotherapie grundsätzlich wirksam ist, sei unbestritten. Gerade qualitative Forschung könne noch zu einem besseren Verständnis und Anwendung der allgemeinen Wirkfaktoren in der Behandlung beitragen. Zugleich sei es jedoch notwendig, auch die Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren und Methoden in Studien mit randomisierten Kontrollgruppen zu belegen (randomisiert: Studien, in denen die Patienten zufällig den Vergleichsgruppen zugeteilt werden). Am Beispiel einer Studie zur Depressionsbehandlung von Ward et al. (2000) illustrierte Norbert Schmacke, dass RCT-Studien auch als "real world studies", die Patientenpräferenzen und tatsächliche Patientenwege zur Psychotherapie berücksichtigen, durchführbar sind. Studien diesen Typs seien ein sinnvoller Orientierungspunkt für die weitere Entwicklung der Psychotherapieforschung. Ein besonderes Potenzial der Psychotherapie sehe er zudem bei Kombinationsbehandlungen, deren Ergebnisse viel versprechend seien. Außerdem könnten Kurzzeittherapien eine besondere Bedeutung erlangen, um Versorgungsengpässe (z. B. lange Wartezeiten) abzubauen.
WBP zur Wirksamkeit
Wie der Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP) die Wirksamkeit von Psychotherapieverfahren und -methoden bewertet, erläuterte dessen alternierender Vorsitzender Prof. Dr. Dietmar Schulte. Der WBP hat nach seinem gesetzlichen Auftrag die wissenschaftliche Anerkennung von Psychotherapieverfahren zu prüfen. Hierin überschneidet sich seine Aufgabe mit der des G-BA, der allerdings auch noch die medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit zu beurteilen habe.
In der internationalen Psychotherapieforschung würde die Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren ganz überwiegend für die Anwendung spezifischer Diagnosen bzw. Diagnosengruppen untersucht. Ähnlich dem Ansatz der "empirically supported treatments" der American Psychological Association (APA) prüfe der Beirat Methoden auf der Ebene von Diagnosen, während für die Bewertung von Verfahren größere Diagnosegruppen definiert würden. In der Definition der Anwendungsbereiche beständen große Übereinstimmungen zwischen WBP und Expertenkommission. Dabei sei der Vorschlag der Expertenkommission zur Operationalisierung des Kriteriums der Versorgungsrelevanz differenzierter und besser begründet als die derzeit gültige Entscheidungsregel des WBP, wann die Zulassung eines Verfahrens für die vertiefte Ausbildung zu empfehlen ist.
In der jüngeren Vergangenheit habe der Beirat überwiegend Anträge zur wissenschaftlichen Anerkennung von Psychotherapiemethoden bearbeitet. Die Entwicklung neuer Methoden sei ein wichtiger und dynamischer Innovationsbereich in der Psychotherapie. Insofern sei die diskutierte Möglichkeit der sozialrechtlichen Zulassung neuer Psychotherapiemethoden unabhängig von den Richtlinienverfahren zu begrüßen.
Der WBP diskutiere zurzeit, stärker die externe Validität von Studien zu berücksichtigen. Eine Methodenarbeitsgruppe habe einen differenzierten Kriterienkatalog entwickelt, der der Effectiveness-Forschung und damit der psychotherapeutischen Versorgungsforschung unter klinischen Alltagsbedingungen ein stärkeres Gewicht beimesse. Über die Gewichtung der internen und externen Validität werde noch im WBA diskutiert.
Patientensicht
Patientensicht
Patienten bewerten vor allem die persönliche Kompetenz eines Psychotherapeuten und weniger das jeweilige Psychotherapieverfahren, erklärte Jürgen Matzat (Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen, Gießen). Sie erwarten eine gemeinsame Entscheidungsfindung von Therapeut und Patient (shared decision making). Für Patienten hätten Gemeinschaftspraxen und Polikliniken den Vorteil, dass dort am ehesten verschiedene Angebote vorgehalten würden und der Patient dort eher ein Angebot finde, das seinen Präferenzen entspreche. Kritisch beurteilte Matzat die massive Ungleichheit in der psychotherapeutischen Versorgung zwischen Stadt und Land, arm und reich, jung und alt. Die Wahrscheinlichkeit, eine psychotherapeutische Behandlung zu erhalten, sei insbesondere für die so genannten YAVIS (Abkürzung für young, Attractive, Verbal, Intelligent, successful) hoch. Gravierende Versorgungsdefizite beständen insbesondere für Körperbehinderte, Migranten und andere sozial benachteiligte Gruppen. Ferner wäre ein größeres Angebot an Kurzzeittherapie wünschenswert wie auch eine bessere Versorgung chronisch Kranker.
Fragen des G-BA
Die Arbeitsergebnisse der Expertenkommission zu den Anwendungsbereichen der Psychotherapie referierten Prof. Dr. Günter Esser (Universität Potsdam) und Prof. Dr. Harald Freyberger (Universitätsklinik Greifswald). Leiten ließ sich die Expertenkommission von den auch für den Gemeinsamen Bundesausschuss zentralen Fragen.
Um sein Ziel einer weiteren ganzheitlichen Psychotherapie realisieren zu können, stellte sich der G-BA und damit auch die Expertenkommission die folgenden Fragen:
Definition von Anwendungsbereichen der Psychotherapie,
Entwicklung von Entscheidungsregeln, mit denen die Wirksamkeit eines psychotherapeutischen Verfahrens beurteilt werden kann,
Operationalisierung des Kriteriums Versorgungsrelevanz.
Neue Anwendungsbereiche
Die Expertenkommission der BPtK schlug in ihrem Gutachten, das den Teilnehmern des Symposiums vorlag, vor, die Anwendungsbereiche der Psychotherapie neu zu gliedern: in "allgemeine Anwendungsbereiche" und "spezielle Anwendungsbereiche". (Link zum Gutachten der Expertenkommission)
Zu den allgemeinen Anwendungsbereichen bei Erwachsenen gehören
affektiven/depressiven Störungen,
Angststörungen,
Abhängigkeit und Missbrauch,
somatoforme und dissoziative Störungen sowie Neurasthenie, Depersonalisations-/Derealisationssyndrome.
Zu den allgemeinen Anwendungsbereichen bei Kindern gehören:
externalisierende Störungen,
Angststörungen,
depressive Störungen.
Die Anwendungsbereiche wurden nach ihrer Versorgungsrelevanz gewichtet unter besonderer Berücksichtigung von Häufigkeit, Schweregrad und Prognose der psychischen Störungen sowie dem Inanspruchnahmeverhalten der Betroffenen. Beispielsweise haben alle psychischen Störungen in den vier Anwendungsbereichen bei Erwachsenen eine 12-Monats-Prävalenz von über drei Prozent in der Bevölkerung. Zusammengenommen entsprechend sie mindestens 70 Prozent der Gesamtzahl aller Fälle mit psychischen Störungen.
Die Definition der Anwendungsbereiche dient ausschließlich dazu, die Beurteilung eines psychotherapeutischen Verfahrens zum Zwecke der sozialrechtlichen Zulassung zu ermöglichen, die Definition soll daher den Anforderungen der klinischen Forschung entsprechen und auch wissenschaftlich begründbar sein. Die Beurteilung der Wirksamkeit für einen Anwendungsbereich ist damit keinesfalls gleichbedeutend mit einer Aussage über die Indikation ohne die Indikationsbreite eines Verfahrens.
Kinder- und Jugendliche
Günter Esser betonte, dass die Expertenkommission wie auch der WBP die Auffassung vertreten, dass die Bewertung psychotherapeutischer Verfahren für Kinder- und Jugendliche separat vorzunehmen ist. Das psychotherapeutische Vorgehen unterscheide sich insbesondere bei Kindern ganz erheblich von der Behandlung Erwachsener. Dieser Einschätzung stimmten auch Prof. Dr. Gerd Lehmkuhl (Universität Köln) und Prof. Dr. Bernhard Strauß (Universität Jena) zu. Auch das klinische Bild sei bei Kindern trotz derselben Diagnosekategorie in der Regel mit dem bei Erwachsenen nicht vergleichbar.
Günter Esser erklärte, die Kommission habe die Anwendungsbereiche der Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen im Vergleich zum WBP stärker differenziert (15 statt acht Anwendungsbereiche). Zwischen Expertenkommission und WBP gebe es aber grundsätzlich eine hohe Übereinstimmung in der Definition der Anwendungsbereiche, erläuterte Harald Freyberger. Unterschiede gebe es allerdings bei den Angststörungen. Die posttraumatische Belastungsstörung sei sinnvoller den Angststörungen zu zuordnen. Bei den Anpassungsstörungen handele es sich um eine diagnostische Restkategorie, die zwar in der Praxis noch relativ häufig gestellt, deren Validität aber aufgrund von epidemiologischen Studien stark bezweifelt werden könne. Ferner sei die Angststörung durch eine hohe Rate spontaner Remissionen gekennzeichnet. Für einen besonderen Anwendungsbereich Suchterkrankungen bei Erwachsenen spreche neben epidemiologischen Argumenten vor allem auch die Schwere der Erkrankungen (Prognose, Chronizität, Folgeerkrankungen, Funktionsbeeinträchtigungen). Zudem sei Psychotherapie bei Suchterkrankungen wie unter anderem auch bei den psychotischen Erkrankungen und den chronischen körperlichen Erkrankungen nicht nur in Rahmen der medizinischen Rehabilitation, sondern auch als kurative Behandlung indiziert. Die derzeit gültigen Psychotherapie-Richtlinien würden an dieser Stelle den aktuellen Stand der Wissenschaft nicht mehr abbilden und müssten entsprechend aktualisiert werden.
Keine Partialisierung
Bernhard Strauß sprach sich in seinem Vortrag gegen eine Partialisierung der Psychotherapie aus. Eine Bewertung von Verfahren und Methoden für verschiedene Anwendungsbereiche sei wissenschaftlich sinnvoll. Gut ausgebildete Psychotherapeuten sollten jedoch nicht aufgrund eines fehlenden Wirksamkeitsnachweises von der Behandlung spezifischer Störungen ausgeschlossen werden. Individuellen Indikationsentscheidungen liege ein differenzierter Bewertungsprozess zugrunde, bei der die Diagnose eines Patienten und die Wirksamkeitsbelege zu einem Verfahren nur einer von vielen zu berücksichtigen Aspekten sei.
Keine indikationsbezogene Zulassung
Der G-BA-Vorsitzende Dr. Rainer Hess erläuterte die gesetzlichen Grundlagen, wie neue psychotherapeutische Verfahren zuzulassen sind. Die Bewertung einer ärztlichen oder psychotherapeutischen Behandlung nach § 135 Abs. 1 SGB V sei eine Voraussetzung für deren Anerkennung als GKV-Leistung. Dies gelte laut Verfahrensordnung ausdrücklich auch für Psychotherapieverfahren.
Die Verfahrensordnung müsse nach § 91 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 eine einheitliche Definition der methodischen Anforderungen leisten. Die Gesprächspsychotherapie sei der erste Anwendungsfall, der die erforderliche Anpassung der Psychotherapie-Richtlinien nun forciert habe. Rainer Hess wies weiter darauf hin, dass der G-BA keine indikationsbezogene Zulassung der Psychotherapieverfahren beabsichtige. Im Interesse der Patienten sei es vielmehr erforderlich, dass zugelassene Psychotherapeuten auch weiterhin umfassend psychotherapeutisch tätig werden können. Gerade deshalb müsse ein Psychotherapeut in der Lage sein, in den versorgungsrelevanten Anwendungsbereichen einen Patienten zu behandeln.
Die bisherige Anforderung, dass ein neues Verfahren im Vergleich mit einem zugelassenen Verfahren einen zusätzlichen Nutzen zu belegen habe, könne aus Gründen der Gleichbehandlung der Verfahren nicht aufrechterhalten werden. Ebenso falle der bisher verlangte Nachweis weg, dass ein neues Verfahren, über zehn Jahre in der ambulanten Versorgung wissenschaftlich nachgewiesen, erfolgreich angewendet worden ist. Die neuen Regelungen ermöglichten es zudem, dass psychotherapeutische Methoden unabhängig von Verfahren zugelassen werden können, wenn ein indikationsbezogener Nutzennachweis möglich sei.
Drei Studien pro Anwendungsbereich
Prof. Dr. Sven Olaf Hoffmann (Universität Mainz) referierte, dass nach Ansicht der Expertenkommission pro Anwendungsbereich mindestens drei methodisch adäquate Studien (mit Kontrollgruppenbedingung) erforderlich sein sollten, um die Wirksamkeit eines Verfahrens ausreichend zu belegen. Mindestens eine Studie sollte eine Katamnese einschließen, die den längerfristigen Behandlungserfolg nachweist. Bei den allgemeinen Anwendungsbereichen sollten sich die Studien wegen der Breite der Anwendungsbereiche auf mindestens zwei qualitativ verschiedene Subkategorien des Anwendungsbereichs beziehen. Auch bei fehlendem Nachweis in einzelnen Anwendungsbereichen soll es allerdings aufgrund des Wirksamkeitsnachweises in mehreren Hauptanwendungsbereichen möglich sein, insgesamt die generelle Wirksamkeit eines psychotherapeutischen Verfahrens zu bestätigen.
Erforschung der realen Praxis
Prof. Dr. Horst Kächele (Universitätsklinikum Ulm) kritisierte die Dominanz der randomisierten Studien bei der Bewertung von Psychotherapieverfahren. In der internationalen Psychotherapieforschung werde zunehmend eine Ergänzung um die Effectiveness-Forschung gefordert. Horst Kächele schlug daher ein Stufenmodell - ähnlich der Pharmaforschung - vor, bei der auf einer frühen Stufe kontrollierte klinische Studien unter Idealbedingungen durchgeführt werden. Im weiteren Verlauf der Entwicklung und Erforschung einer Psychotherapiemethode sollten diese Studien um so genannte effectiveness-Studien unter realen Praxisbedingungen ergänzt werden.
Multimorbidität
Prof. Dr. Jürgen Kriz (Universität Osnabrück) kritisierte dagegen, dass sich die gegenwärtige Forschung zu sehr an den Methoden der Pharmaforschung orientiere. Andere methodologische Ansätze, u. a. der qualitativen Forschung und der Effektiveness-Forschung würden bei der Prüfung, ob ein psychotherapeutisches Verfahren wirksam sein, nicht ausreichend berücksichtigt. Es mangele an Forschung, die sich an ätiologischen Kategorien, z. B. an Konfliktkonstellationen, orientiere. Ferner werde die Multimorbidität der meisten psychisch erkrankten Patienten in randomisierten Studien nicht abgebildet. In Diskussionsbeiträgen wurde darauf hingewiesen, dass mittlerweile über 50 Prozent der randomisierten Studien zur generalisierten Angststörung auch Patienten mit verschiedenen komorbiden Störungen berücksichtigten.
Versorgungsrelevanz
Den zentralen Aspekt der psychotherapeutischen Versorgungsrelevanz erläuterte Prof. Dr. Jürgen Hoyer (Universität Dresden). Bei der Operationalisierung dieses Kriteriums sei die Bevölkerungsepidemiologie von besonderer Bedeutung. Weiterhin habe die Expertenkommission bei der Operationalisierung - soweit möglich - den Schweregrad, sozialmedizinische und gesundheitsökonomische Folgen, die Prognose zum Verlauf der Erkrankung und die Versorgungsepidemiologie (quantitative Relevanz in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung) berücksichtigt. Eine Analyse der behandelten Patienten der psychotherapeutischen Ambulanzen der Universitäten Dresden und Potsdam hätte bestätigt, das weit über 90 Prozent der Patienten mindestens eine Störung aus den allgemeinen Anwendungsbereichen aufweise. Außerdem seien die vorgeschlagenen allgemeinen Anwendungsbereiche auch mit Blick auf Komorbiditäten von entscheidender Bedeutung.
Insgesamt halte es die Expertenkommission für sachgerecht, ein Psychotherapieverfahren bei Erwachsenen dann zuzulassen, wenn für mindestens drei der vier allgemeinen Anwendungsbereiche ausreichende Wirksamkeitsbelege vorliegen. Prof. Dr. Thomas Fydrich (Humboldt-Universität zu Berlin) betonte, dass die Definition der Versorgungsrelevanz psychischer Störungen nicht dazu führen dürfe, dass sich die Versorgung von selteneren psychischen Störungen verschlechtere. Auch dürfe sich die Forschungsförderung nicht weitgehend auf die häufigsten Störungen konzentrieren.
Prof. Dr. Dr. Uwe Koch (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf) betonte, dass die Versorgungsrelevanz psychischer Störungen unter der Perspektive des Behandlungsbedarfs betrachtet werden sollte. Es gebe verschiedene Zugänge, den Bedarf abzuschätzen. Der vorliegende Vorschlag beruhe überwiegend auf den Daten des Bundesgesundheitssurveys zur Bevölkerungsepidemiologie. Ein anderer denkbarer Zugang sei die Nachfrage und Inanspruchnahme von vorhandenen Behandlungsangeboten. Bei der Komplexität der Fragestellung und der Anzahl der zu berücksichtigenden Parameter und der lückenhaften Datenlage (z. B. zu Fragen des Schweregrades) wäre ein formalisiertes Konsensusverfahren unter Einschluss verschiedener Interessengruppen die wissenschaftlich angemessene Herangehensweise an diese Fragestellung.
Bonner Erklärung
Im Rahmen des Symposiums überreichte Frau Schweizer-Köhn die Bonner Erklärung. Die Bonner Erklärung entstand am Rande einer Tagung vom 17. - 19. März 2006 in Bonn. Dass sinnverstehende, einem humanistischen Menschenbild verpflichtete psychotherapeutische Traditionen weder politisch noch ökonomisch aus der Versorgung psychisch kranker Menschen verdrängt und ausgegrenzt werden, ist das Ziel der Bonner Erklärung. Psychotherapieverfahren dürften nicht nur auf bestimmte Symptombereiche reduziert, Patienten nicht an Hand einzelner Störungen klassifiziert werden. Hintergrund der Bonner Erklärung war, wie das Symposium, die laufende Diskussion um die Anpassung der Psychotherapierichtlinien im Gemeinsamen Bundesausschuss.
Die Diskussion hat außerdem gezeigt, dass sich Psychotherapeuten in dem Ziel einig sind, dass eine ganzheitliche Behandlung von Patienten ein unverzichtbares Qualitätsmerkmal ist und bleiben muss. Deutlich wurde, dass, um den Transfer psychotherapeutischen Fortschritts in die Versorgung zu ermöglichen, eine Unterscheidung zwischen Verfahren und Methoden notwendig wird. Inwieweit hierfür das Kriterium der Versorgungsrelevanz angesichts des Stands der Forschungen schon wirklich trendscharf definierbar ist, blieb offen. Das Forschungsdefizit macht hier jede Entscheidung zu einer vorläufigen.
Veröffentlicht am 10. Mai 2006