Die reglementierte Viruswelt erinnert Geflüchtete an traumatisches Ausgeliefertsein
Erfahrungsbericht 11: Ricarda Müller vom Psychosozialen Zentrum in Hamburg
Als hätten sie sich noch nicht lange genug in Ländern und Gesellschaften orientieren müssen, deren Regeln und Sprachen willkürlich oder unverständlich waren. Geflüchtet aus ihrer Heimat, in der eine grauenhafte Militärdiktatur absurden Gehorsam verlangte und Soldaten in den Kerker warf, wenn sie zur Beerdigung ihrer Mutter gingen.
»Der Weg von Eritrea nach Europa birgt die entsetzlichsten Fluchtgeschichten, die wir erzählt bekommen“, stellt Ricarda Müller, psychotherapeutische Leiterin des Psychosozialen Beratungszentrums SEGEMI in Hamburg fest. Es ist ein Weg durch Wüsten, fremde Dörfer und Städte, dabei Führern ausgeliefert, denen nicht zu trauen ist und die immer wieder Geld verlangen. Ständig von Durst und Hunger bedroht, mit Toten am Wegesrand. An der Mittelmeerküste in schreckliche Lager gepfercht, auf eine lebensgefährliche Überfahrt hoffend. Wochen-, monatelang. Dann die Fahrt über das Meer, in unsicheren Booten mit viel zu vielen Menschen und der Frage, ob sie überhaupt ankommen oder dann aufgenommen werden. Wer es schließlich über Italien nach Deutschland geschafft hat, ist für sein Leben erschöpft, so unendlich war die Flucht, so über alle Maße anstrengend.
»Die Menschen kommen hier an, glücklich, es mit letzter Kraft geschafft, das Grauen überlebt zu haben, aber auch für ihr Leben geprägt von den Erlebnissen der Flucht“, berichtet die Psychotherapeutin. Sie versuchen, sich einzurichten in der Fremde, zunächst auf Hilfe angewiesen, aber nicht mehr verfolgt und bedroht. Aber sie verstehen ihre Nachbarn nicht und nicht die Regeln, nach denen die Menschen hier miteinander umgehen. „Viele der Geflüchteten, die zu uns kommen, erinnern die Einschränkungen des öffentlichen Lebens aufgrund der Corona-Pandemie an polizeiliche oder militärische Ausgehsperren in ihren Ländern“, erklärt Ricarda Müller. „Sie hörten von Verboten und hatten wieder Angst, vor die Tür zu gehen.“
Was für ein Aufatmen für die Eritreer, Syrer oder Afghanen, im Psychosozialen Zentrum auf Menschen zu treffen, die ihre Sprache sprechen und ihnen die schwierige Situation erklären können. „Die Menschen, die zu uns kommen, sind im Moment vor allem sehr, sehr dankbar, Informationen über die Corona-Pandemie in ihrer Sprache zu bekommen“, berichtet Ricarda Müller. „Diese Verständigung in der Landessprache ist schon immer grundlegend für unsere Gespräche über die traumatischen Erlebnisse gewesen, über die Alpträume, die sie in den Nächten heimsuchen“, erklärt die Psychotherapeutin. „Doch während der Coronakrise tat sich außerdem ein Vorhang auf, eine fremde Welt wurde verständlicher. Abstand und Maskenpflicht verloren ihren unheimlichen Charakter.“
Nach einer kurzen Unterbrechung bot das Psychosoziale Zentrum in Hamburg auch während der Coronakrise weiter seine Beratung an. „Wir sind aus unseren kleinen Büros in den großen Besprechungsraum gewechselt, damit wir einen ausreichenden Abstand einhalten können“, berichtet Ricarda Müller. „Die Erwachsenen waren sehr dankbar für jedes Gespräch, das wir ihnen weiter angeboten haben. Bei den Jugendlichen herrschte jedoch eine große Zurückhaltung. Viele gingen zunächst nicht mehr aus dem Haus.“ Viele Familien sind inzwischen in Wohnungen untergebracht, in denen sie sich Küche und Bad mit anderen teilen. Die gemeinsamen Räume waren nun für viele unsicher und bedrohlich. Die anderen, das waren auch die, die vielleicht die ansteckende und lebensgefährliche Krankheit in der Wohnung verbreiteten. „Auch wenn sie durch die Gespräche besser verstanden, wie sie sich schützen können, so erinnerte sie die reglementierte Viruswelt wieder an Erlebnisse des Ausgeliefertseins. Die akute Bedrohung durch die Corona-Pandemie vermischt sich mit den Erinnerungen an traumatische Erfahrungen, dessen Boden eben genau existenzielle Bedrohung, Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein bilden.“
Seit März 2020 verfügt das Psychosoziale Zentrum in Hamburg auch über eine sogenannte Institutsermächtigung, das heißt, es darf nicht nur beraten, sondern psychisch kranken Flüchtlingen auch psychotherapeutische Behandlungen anbieten. Maßgeblich möglich wird dieses Angebot auch, da Hamburg und Bremen als bislang einzige Bundesländer verlässlich Sprachmittler*innen für ambulante Psychotherapie sowie ambulante Psychiater*innen bezahlen. Die Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen und Depressionen konnte so zu einem der Schwerpunkt der psychotherapeutischen Hilfe entwickelt werden.
So lässt sich die Wucht der Erinnerungen und Emotionen therapeutisch bearbeiten, nicht aber die Enge in den Wohnungen lindern, mit der Familien auch mit vier Kindern zurechtkommen müssen. „Auch für diese Familien fallen Kitas und Schulen weg“, erklärte Ricarda Müller. „Wenn überhaupt ein Computer für die Hausaufgaben verfügbar ist, müssen ihn sich oft mehrere Kinder teilen. Es ist ein Glück, wenn fürsorgliche Eltern unterstützen und helfen können. Längst nicht alle Kinder haben jedoch ein solches Glück und Konflikte eskalieren.“
Veröffentlicht am 03. Juni 2020