Diotima-Ehrenpreis 2015 für Prof. Dr. Stefan Klingberg
Würdigung für Engagement zu Psychotherapie bei Psychosen
Prof. Dr. Stefan Klingberg ist Preisträger des Diotima-Ehrenpreises der deutschen Psychotherapeutenschaft 2015. Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) ehrt mit Prof. Klingberg einen Wissenschaftler und Psychotherapeuten, der einen wesentlichen Beitrag für die Psychosenpsychotherapie in Deutschland geleistet und sich dabei sehr für eine Umsetzung neuer, evidenzbasierter Forschungsergebnisse in den Behandlungsalltag eingesetzt hat.
Prof. Stefan Klingberg studierte in Münster Psychologie, wo er 1990 sein Diplom machte und 1993 zum Thema „Rückfallprophylaxe bei Psychosen“ promovierte. Seit 1993 ist Prof. Klingberg an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Tübingen tätig, wo er 2003 auch habilitierte. Seit 2004 arbeitet er als Leitender Psychologe und Hochschuldozent in Tübingen. Prof. Klingberg veröffentlichte zahlreiche Aufsätze und Bücher zum Thema „Psychotherapie bei Psychosen“ und ist derzeit maßgeblich an der Aktualisierung der S3-Leitlinie Schizophrenie beteiligt. Er ist Mitgründer und Vorstandsmitglied des Dachverbands Deutschsprachiger PsychosenPsychotherapie (DDPP). Dieser Dachverband ist ein Zusammenschluss von Personen, die in der Psychiatrie oder der Versorgung von Menschen mit Psychosen tätig sind und gemeinsam das Ziel verfolgen, Psychotherapie in der Behandlung von Menschen mit Psychosen zu einem selbstverständlichen Angebot zu machen.
Jeder Mensch kenne das Gefühl, kurzfristig den Kontakt zur Realität zu verlieren. Menschen mit einer Psychose erlebten aber einen Realitätsverlust, der für sie nicht mehr kontrollierbar sei. Das mache große Angst, vor allem den Erkrankten selbst, aber auch anderen, die sie erlebten. Mit diesen Worten begrüßte BPtK-Präsident Prof. Rainer Richter die Gäste und die Parlamentarische Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz zur siebenten Diotima-Ehrenpreisverleihung der deutschen Psychotherapeutenschaft. „Diese Angst ist mit ein Grund, warum schizophrene Psychosen, diejenige psychische Erkrankung sind, die mit den meisten Vorurteilen belegt ist, durchaus auch von Seiten der Behandler“, erläuterte Richter. Obwohl heute nachgewiesen sei, dass Psychotherapie in allen Phasen einer psychotischen Erkrankung wirksam sei, gehöre Psychotherapie noch längst nicht zur Routinebehandlung bei Schizophrenie.
Psychosen oder Schizophrenie zählten zu den schwersten psychischen Erkrankungen, da sie oft chronisch verliefen und das Leben sowie den Alltag der Erkrankten häufig stark beeinträchtigten. Zudem sei die Behandlung der Erkrankung sehr kostenintensiv. Die jährlichen Gesamtausgaben würden auf insgesamt 4,4 bis 9,2 Milliarden Euro geschätzt. Dabei machten die Behandlungskosten selber nur ein Drittel der Ausgaben aus. Der größte Anteil entfalle auf die indirekten Kosten, die aufgrund von Arbeits- oder Erwerbsunfähigkeit und Frühverrentung entstehen. Die Entwicklung und Umsetzung wirksamer Behandlungsmethoden im Gesundheitssystem sei daher nicht nur aus Patienten, sondern auch aus gesellschaftlicher Sicht wichtig. Die BPtK verleihe den Diotima-Ehrenpreis dieses Jahr deshalb einem Kollegen, der sich in besonderer Weise um die Entwicklung der evidenzbasierten Psychosenpsychotherapie verdient gemacht und damit einen Grundstein für deren Implementierung in das Versorgungssystem gelegt habe.
Prof. Dr. Dorothea von Haebler, Vorsitzende des DDPP und Oberärztin an der Psychiatrischen Klinik der Charité, dankte zu Beginn ihres Festvortrages der BPtK für ihr beharrliches Engagement in diesem Themenbereich, das u. a. – entscheidend mit angestoßen vom diesjährigen Preisträger – zu einer Änderung der Psychotherapie-Richtlinie beigetragen habe. Danach sei ambulante Psychotherapie nicht mehr nur zur Behandlung der Folge-, Begleit- und Residualsymptomatik möglich, sondern auch zur Behandlung der Schizophrenie selbst.
Ihr Rückblick in die Geschichte der Psychosenbehandlung setzte Prof. Stefan Klingbergs Verdienste in ein besonderes Licht. Zu dieser Vergangenheit gehörten Behandlungsmethoden wie die Lobotomie oder Elektrokrampftherapie. Auch die großen Hoffnungen, die zu Beginn in Neuroleptika gesetzt wurden, hätten sich nicht erfüllt. Obwohl Psychopharmaka sehr hilfreich seien, um akute Symptome einzugrenzen und manchmal auch um einen Kontakt zum Patienten ermöglichen zu können, verblieben bei einem hohen Prozentsatz der Erkrankten doch erhebliche Einschränkungen in kognitiven Fähigkeiten oder eine fehlende Sicherheit in der Kontrolle über Fühlen, Denken und Handeln, erläuterte Prof. von Haebler.
Hier setze die psychotherapeutische Behandlung an. Unabhängig vom Verfahren sei eine psychotherapeutische Grundhaltung, die auch eine respektvolle Zusammenarbeit der Disziplinen beinhalte, Voraussetzung, um eine Beziehung zum Patienten herstellen zu können. Es gehe darum, den Patienten da abzuholen, wo er stehe. Hierfür seien eine entsprechende Modifikation der Psychotherapieverfahren und ein flexibles, undogmatisches Vorgehen notwendig. Um die bestehende massive Unterversorgung in der ambulanten Psychosenpsychotherapie abzubauen, sei es notwendig, dass beide Berufsgruppen, Psychiater und Psychotherapeuten, anfingen umzudenken. Noch zu häufig gelte eine medikamentöse Behandlung als erste und häufig alleinige Behandlungsform für Psychosen. Die Dichotomisierung zwischen akut exazerbierten Patienten, die dann nur medikamentös zugänglich seien und chronisch Kranken, die zu betreuen, aber nicht mehr behandelbar seien, müsse aufhören. Hierfür setze sich auch der DDPP ein.
In seiner Laudatio würdigte der BPtK-Präsident den Preisträger als engagierten Forscher und Psychotherapeuten, dessen Interesse der Wissenschaft gelte, dem vor allem aber die Patienten selber am Herzen lägen. Der diesjährige Diotima-Ehrenpreis solle auch der Psychosenpsychotherapie zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen und längerfristig auch zu einem steigenden Engagement der Psychotherapeuten in diesem Versorgungsbereich führen. Prof. Klingberg habe Anfang der 1990er Jahre zu einer Zeit angefangen, sich mit dem Thema Psychosenpsychotherapie zu beschäftigen, als der Einsatz der atypischen Neuroleptika gerade auf dem Vormarsch war und man in der Psychosentherapie vor allem auf Medikamente setzte. Es sei Pionierarbeit gewesen, sich zu dieser Zeit für die Erforschung der psychotherapeutischen Behandlung dieser Erkrankung einzusetzen. Prof. Klingberg habe maßgeblichen Anteil daran, dass die Psychosenpsychotherapie heute evidenzbasiert sei. Dies sei eine zentrale Voraussetzung dafür, Psychotherapie im Versorgungssystem angemessen zu verankern. Und gerade das sei ein besonderes Anliegen von Prof. Klingberg. So sei er auch maßgeblich an der Überarbeitung der S3-Leitlinie Schizophrenie beteiligt. Zudem sei er Mitgründer und Vorstandsmitglied des DDPP. Der Dachverband, der allen in der Versorgung von Psychosen Tätigen offenstehe, verfolge das Ziel, Psychotherapie zu einem selbstverständlichen Behandlungsangebot in der Therapie von Psychosen zu machen.
BPtK-Präsident Richter dankte Prof. Klingberg zum Abschluss, dass er nicht müde werde, diese Botschaft in Vorträgen, Publikationen und Büchern zu verkünden. Mit dem Diotima-Ehrenpreis zeichne die deutsche Psychotherapeutenschaft Prof. Klingberg für seine wissenschaftlichen Leistungen aber auch für sein Engagement für eine bessere Versorgung von Psychosekranken aus.
In seinem eigenen Vortrag beschrieb Prof. Stefan Klingberg seine berufliche Laufbahn unter dem Blickwinkel „Psychotherapie bei Psychosen – gestern, heute und morgen“. Als er Anfang der 1990er Jahre seine wissenschaftliche Laufbahn in einem Forschungsprojekt zur Rückfallprophylaxe bei Psychosen angefangen habe, sei die Psychopharmakotherapie die erste Therapieoption gewesen. Zudem wurde die Psychoedukation zwar evaluiert, war aber weit davon entfernt, zum Versorgungsalltag zu gehören. „Aus heutiger Sicht ist es kaum vorstellbar, dass die Information des Patienten über seine Erkrankung – also etwas im Prinzip völlig selbstverständliches –, und nichts anderes ist im Prinzip Psychoedukation, damals eine Errungenschaft war“, berichtete Prof. Klingberg.
Damals sei man aber auch noch weit davon entfernt gewesen, dass Psychotherapie auch bedeuten könne, mit dem Patienten über den Wahn zu reden. Inzwischen erstelle seine Arbeitsgruppe jedoch Lehrvideos für die Ausbildung in Psychosenpsychotherapie, in denen genau dies vorgeführt werde. In einer Psychotherapie werde mit dem Patienten über seine Wahnvorstellungen geredet und diese gezielt hinterfragt. Dass Psychotherapie bei Psychosen wirksam und indiziert sei, sei heute keine Frage mehr. In einer aktuellen Studie könne sogar gezeigt werden, dass eine ausschließlich psychotherapeutische Behandlung die gleiche Effektstärke habe wie eine Medikamentengabe. Dies sei noch einmal eine ganz neue Entwicklungsperspektive.
Prof. Klingberg wies noch einmal auf die extreme psychotherapeutische Unterversorgung speziell von Psychosepatienten hin. Hier sei noch einiges an Arbeit zu erledigen. Er wünsche sich deshalb in zehn Jahren im „Psychotherapeutenjournal“ zu lesen: „Kammer fordert, nicht nur Psychosen psychotherapeutisch behandeln!“.
Veröffentlicht am 29. April 2015