Diotima-Ehrenpreis für die Versorgung schwer psychisch kranker Menschen verliehen
Bundesgesundheitsminister Rösler würdigt Preisträger
Am 7. Mai 2010 hat die deutsche Psychotherapeutenschaft zum zweiten Mal den Diotima-Ehrenpreis verliehen. Die diesjährigen Preisträger sind Prof. Dr. Thomas Bock, Leiter der Sozialpsychiatrischen Ambulanz der Universitätsklinik Hamburg, und der Dachverband Gemeindepsychiatrie. Mit dem Diotima-Ehrenpreis wurden dieses Jahr eine Person und eine Organisation geehrt, die sich in besonderem Maß um die Versorgung schwer psychisch kranker Menschen verdient gemacht haben. Die Preise wurden im Rahmen des 16. Deutschen Psychotherapeutentages bei einer Festveranstaltung vergeben.
In seinem Grußwort betonte Bundesgesundheitsminister Dr. Philipp Rösler, dass die für eine Gesellschaft der Zukunft wesentlichen Begriffe von Wissen und Toleranz auch bei der Versorgung psychisch kranker Menschen von besonderer Bedeutung seien: Wissen aus der Versorgungsforschung, wie die unterschiedlichen Versorgungssektoren besser miteinander vernetzt werden könnten, damit psychisch kranke Menschen schnell und unkompliziert sowie möglichst lange ambulant und in ihrem sozialen Umfeld behandelt werden könnten. Und Toleranz gegenüber psychisch Kranken, die heute immer noch anders wahrgenommen würden als körperlich Erkrankte und oft stigmatisiert würden. Die diesjährigen Preisträger des Diotima-Ehrenpreises hätten diese Grundsätze vorbildlich umgesetzt.
Die Versorgung psychisch kranker Menschen hat sich seit der Psychiatrie-Enquête vor über 30 Jahren wesentlich verbessert und weiterentwickelt. Zentrale Empfehlungen des Enquête-Berichts, wie die Umstrukturierung der großen psychiatrischen Krankenhäuser und der Aufbau einer gemeindenahen Versorgung, sind heute umgesetzt. 1975 befanden sich noch fast 60 Prozent der Patienten über zwei Jahre in einem psychiatrischen Fachkrankenhaus. Heute gibt es dagegen ambulante Behandlungs- und Hilfsangebote, die auch chronisch psychisch kranken Menschen ein eigenständiges Leben außerhalb einer Klinik ermöglichen. Die ärztliche und psychotherapeutische Behandlung dieser Patienten hat sich stetig weiterentwickelt - quantitativ und qualitativ. Die Krankheits- und Behandlungsparadigmen haben sich verändert - bis hin zur Diskussion und Kritik einer einseitigen Pharmakoorientierung. Prof. Dr. Rainer Richter, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, erinnerte in seiner Begrüßung aber auch daran, dass schwer psychisch kranke Menschen heute immer noch in ihrer beruflichen und sozialen Teilhabe viel zu häufig eingeschränkt seien. "Deshalb brauchen wir mehr noch als bisher wohnortnahe, flexible und koordinierte Versorgungsangebote, die auf multiprofessionelle Behandlungs- und Betreuungsstrategien ausgerichtet sind und in denen die verschiedenen Professionen Hand in Hand zusammenarbeiten."
Psychotherapeuten können und sollten ein wichtiger Bestandteil dieser Netzwerke sein, forderte Prof. Dr. Harald Rau von den Zieglerschen Anstalten e.V. Über die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten verfügten Psychotherapeuten. Es sei empirisch unbestritten, dass Psychotherapie bei allen psychischen Erkrankungen ein wirksames Behandlungsmittel sei. Die Realität in psychotherapeutischen Praxen sehe jedoch häufig anders aus, Patienten mit psychotischen oder Abhängigkeitserkrankungen erhielten nur selten eine ambulante Psychotherapie. Gründe hierfür seien u. a. in den strukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen zu suchen, die dem spezifischen Bedarf dieser Patientengruppen besser angepasst werden müssten. Zudem wies Prof. Rau darauf hin, dass bestimmte "Mythen" in der Psychopathologie herrschten, die sich bei genauerem Betrachten empirisch nicht unbedingt belegen ließen. Die Annahme, dass die Kombination psychosozialer und medikamentöser Behandlungsstrategien unimodalen Behandlungen immer überlegen ist, sei beispielsweise nicht zutreffend. So belege eine Studie, dass die Rezidivrate bei Kombinationsbehandlungen bei gleichen Verbesserungen bei Beendigung der Behandlung höher als bei unimodalen Behandlungen sei - ein Hinweis darauf, u. U. auch gängige Behandlungsstrategien zu hinterfragen.
Mit Prof. Dr. Thomas Bock wurde ein Psychotherapeut ausgezeichnet, der sich in seiner täglichen Arbeit, aber auch als Autor und Wissenschaftler seit mehr als 30 Jahren für ein anthropologisches Verständnis psychiatrischer Erkrankungen und eine stärkere Integration von Psychotherapie in die Versorgungsangebote für schwer psychische kranke Menschen einsetzt. Gut umgesetzt ist dies in der Sozialpsychiatrischen Psychosenambulanz der Universitätsklinik Hamburg, in der verschiedene Berufsgruppen im Team unter der Leitung von Prof. Bock kooperieren. Die Sozialpsychiatrische Psychosenambulanz bildet zusammen mit dem Psychosen Ersterkennungs- und Behandlungsprojekt, dem Bipolar-Projekt, der Krisentagesklinik und dem Home-Treatment-Team eine integrierte Behandlungseinheit für Menschen mit Psychosen.
Ein wichtiger Behandlungsbestandteil ist die individuelle psychotherapeutische Begleitung. Gemeinsam mit Dorothea Buck war Prof. Bock zudem Gründer der Psychoseseminare, in denen sich Betroffene, Angehörige und Professionelle auf Augenhöhe begegnen mit dem Ziel, wechselseitig voneinander zu lernen, was auch für Studierende eine innovative Lernmöglichkeit ist, die 1994 mit dem Fischer-Appelt-Preis der Universität Hamburg für besondere Verdienste in der Lehre ausgezeichnet wurde. Mittlerweile gibt es über 100 solcher Psychoseseminare in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Konzept des Trialogs, das diesen Seminaren zugrundeliegt, hat Früchte in Lehre, Versorgung und Forschung getragen. Der Respekt für die subjektive Sicht der Betroffenen und bedürfnisnahe Konzepte sind zu einem Maßstab von Qualität geworden.
Die Perspektive anderer zu berücksichtigen und einzubeziehen, beschränkt sich aber nicht nur auf Patienten und Angehörige. Prof. Bock versteht sich als Brückenbauer zwischen der sozialen und biologischen Psychiatrie, die die biologischen Ursachen psychischer Erkrankungen in den Mittelpunkt stellt. In der Klinik ist er dafür bekannt, als überzeugter Vertreter der Sozialpsychiatrie immer auch den Dialog mit den biologisch-orientierten Kolleginnen und Kollegen zu suchen. Gemeinsam mit Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner hat er die schon legendäre Vorlesungsreihe "Anthropologische Psychiatrie" in Hamburg initiiert und ein Buch mit dem gleichlautenden Titel veröffentlicht. Zuletzt war Prof. Bock für den Verein "Irre menschlich Hamburg e.V." Mitgestalter von Hamburgs Bewertung als Gesundheitsmetropole der Zukunft, die mit einem ausschließlich auf seelische Gesundheit zielenden Konzept erfolgreich war.
Chronisch psychisch kranke Menschen können nur dann ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen, wenn die entsprechenden ambulanten Hilfsstrukturen vorgehalten werden. Die im Dachverband Gemeindepsychiatrie, dem zweiten diesjährigen Preisträger, zusammengeschlossenen Träger, Hilfsvereine, Bürgerinitiativen und die Selbsthilfe leisten hierzu seit über 30 Jahren einen wichtigen Beitrag. Heute gibt es ein breites Spektrum an ambulanten Hilfsangeboten: betreute Wohnformen, Freizeitangebote, Kontaktzentren und begleitende Hilfen bis hin zu Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten. Hierbei kooperieren die gemeindepsychiatrischen Trägerorganisationen eng mit allen anderen Anbietern psychiatrischer Behandlung. Zu den Besonderheiten des Dachverbandes gehört es auch, dass Betroffene, Angehörige, Bürger sowie Professionelle aktiv und verbindlich in den zusammengeschlossenen Gruppierungen und Vereinen beteiligt sind.
Die Weiterentwicklungen in der psychiatrischen Versorgung spiegeln sich auch in den verschiedenen thematischen Schwerpunkten, die der Dachverband im Laufe der Jahre in seiner Arbeit hatte, wieder. Standen zu Beginn die "Professionalisierung" der Laien- und Bürgerhilfe, z. B. in Kontaktzentren, Clubs oder gemeinsamen Treffpunkten, im Vordergrund, setzte der Dachverband Gemeindepsychiatrie zunehmend auf die Weiterentwicklung der ambulanten Hilfsangebote. Heute sieht er seinen fachlichen Schwerpunkt in der Entwicklung von ambulanten Versorgungsangeboten, die eine Ergänzung oder Alternative zur stationären psychiatrischen Versorgung sein können.
Ambulante Behandlungs- und Rehabilitationskonzepte, in denen therapeutische Behandlungsangebote, wie Soziotherapie, psychiatrische Pflege, Krisenhilfe, aber auch Psychotherapie, miteinander vernetzt sind, sind aus Sicht des Dachverbands zukunftsfähige Konzepte, die den Bedürfnissen der Betroffenen gerecht werden und multiprofessionell ausgerichtet sind. Der Grundsatz "ambulant vor stationär" wird in der Gemeindepsychiatrie ernst genommen und gelebt. Seit 2007 gibt es beim Dachverband das SGB-V-Netzwerk, das gemeindepsychiatrische Träger bei der Umsetzung von neuen Versorgungskonzepten und ambulanten Komplexleistungen berät.
Der Dachverband ist dem Grundsatz der "Inklusion" verpflichtet, d. h. der aktiven Verhinderung von sozialem Ausschluss, des Verlusts von Familie und Kindern, sozialen Beziehungen, Arbeit und Verarmung. Der Dachverband sieht deshalb vor allem die Chance in der integrierten Versorgung psychisch kranker Menschen, erklärte der Vorsitzende Wolfgang Faulbaum-Decke, der den Preis stellvertretend für den gesamten Dachverband entgegennahm. Die Einbeziehung von Psychotherapie oder psychotherapeutischen Konzepten sei dabei aus seiner Sicht dringend notwendig. Der Dachverband Gemeindepsychiatrie wünsche sich, dass Psychotherapeuten aktiv bei der Entwicklung der neuen Versorgungskonzepte mitarbeiten und wichtige Partner in der Netzwerkarbeit vor Ort werden.
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Veröffentlicht am 07. Juni 2010