Früherkennung verbessern und Frühförderung ausbauen
BPtK-Symposium: Prävention psychischer Erkrankungen
Die Früherkennung psychischer Erkrankungen verbessern und die Frühförderung von Risikogruppen ausbauen - so lautet das Fazit des Symposiums, das die BPtK am 26. Februar in Berlin unter dem Titel "Prävention psychischer Erkrankungen: Best Practice in Europa" veranstaltete.
Warum die Prävention psychischer Erkrankungen immer stärker in den öffentlichen Fokus rückt, erläuterte Dr. Lothar Wittmann, Präsident der Psychotherapeutenkammer Niedersachsen. Psychische Erkrankungen gehörten europaweit zu den häufigsten Ursachen von Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit und bedeuteten nicht nur großes Leid für die Betroffenen und ihre Angehörigen, sondern hätten darüber hinaus gravierende gesellschaftspolitische und ökonomische Konsequenzen. Ihre Prävention verlange deshalb höchste Priorität in der Sozial- und Gesundheitspolitik. Der Blick nach Europa könne dabei für die Prävention in Deutschland neue Impulse geben. Denn in Deutschland liege ein "Präventionsgesetz" auf Eis und damit die gesetzliche Regelung einer Querschnittsaufgabe verschiedener Professionen, Kostenträger und Politikbereiche. Der Blick nach Europa macht auch die Stärken der hiesigen Versorgung psychisch kranker Menschen deutlich. In Deutschland seien mit den Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten zwei spezialisierte Heilberufe in die Versorgung psychisch kranker Menschen einbezogen - das sei europaweit beispielhaft.
Diagnosen psychischer Erkrankungen werden immer häufiger, das belegen Gesundheitsberichte und -surveys. Sind psychische und Verhaltensstörungen damit die neue Epidemie des 21. Jahrhunderts? Das fragte Dr. Frank Jacobi, Epidemiologe an der TU Chemnitz, in seinem Vortrag. Daten des Projektes "Size and Burden of Mental Disorders in Europe” zeigen, dass etwa jeder dritte bis vierte Erwachsene innerhalb eines Jahres an einer psychischen Störung erkrankt. In den vergangenen Jahren ist es dabei zu einer Zunahme an Krankschreibungen und Frühverrentungen gekommen. Ursachen sind insbesondere Angststörungen und Depressionen, auch in Verbindung mit körperlichen Diagnosen. Die in diesen Statistiken dokumentierte Zunahme psychischer Störungen liege allerdings auch an einer höheren Akzeptanz und besseren Diagnostik seelischer Krankheiten. Daraus könne nicht unmittelbar auf einen allgemeinen Anstieg psychischer Störungen in der Bevölkerung geschlossen werden. Ihre große Verbreitung müsse allerdings grundsätzlich Anlass für verstärkte Prävention sein.
Das Verhältnis von wissenschaftlicher Erkenntnis und politischem Handeln bei der Prävention psychischer Erkrankungen beleuchtete Prof. Dr. Johannes Siegrist, Medizinsoziologe an der Universität Düsseldorf. Wie erfolgreiche Prävention bei depressiven Erkrankungen aussehen könnte, zeigte er an Beispielen prä- und postnataler Betreuung sozioökonomisch belasteter Eltern, verhaltens- und verhältnispräventiver Maßnahmen bei gefährdeten Jugendlichen und der Stressprävention im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung. Siegrist betonte, wie stark körperliche und psychische Krankheiten gesellschaftlich bedingt seien. Je niedriger die soziale Schicht, desto höher seien Morbidität und Mortalität und die Kluft zwischen privilegierten und benachteiligten Gruppen wachse. Er stellte allerdings auch fest, dass es gerade in Deutschland trotz des bestehenden Handlungsdrucks, trotz wissenschaftlicher Fortschritte bei der Identifizierung von Risikogruppen und trotz der Verfügbarkeit erfolgreicher Präventionsprogramme weiterhin Schwierigkeiten gebe, der Prävention den ihr gebührenden Stellenwert im Gesundheitssystem einzuräumen. Einen wesentlichen Grund sah er in einem gestörten Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik. Im Gegensatz zum angelsächsischen Raum werde in Deutschland wissenschaftliche Evidenz zu wenig ernst genommen.
Ein ähnliches Fazit zog Prof. Dr. Siegfried Lösel, Direktor des Kriminologischen Instituts der Universität Cambridge, der die internationale Forschungslage zur entwicklungsbezogenen Aggressionsprävention bei Kindern und Jugendlichen darlegte. Auch in diesem Präventionsbereich bestehe eine frappierende Diskrepanz zwischen wissenschaftlich nachgewiesenem Nutzen und politischem Handeln. Während die Wissenschaft sich zunehmend der Präventionsforschung annehme und evidenzbasierte Resultate berichte, reagiere die Politik vorrangig tagesaktuell auf Medienberichte über spektakuläre Einzelfälle. Das führe häufig zu kurzfristigem Krisenmanagement und seltener zu langfristigen Konzepten. Dabei lägen insbesondere im Bereich der kind- und familienbezogenen Prävention eine Vielzahl positiv evaluierter Maßnahmen und Programme vor, wie beispielsweise das Programm EFFEKT, das Lösel mit seinen Mitarbeitern an der Universität Erlangen-Nürnberg entwickelte. Erfolg versprechend seien gut strukturierte, multimodale Programme. Eine langfristige Evaluation könne dabei die Spreu vom Weizen trennen. Entscheidend seien ferner eine qualitätsgesicherte Implementierung und die ressortübergreifende Kooperation, z. B. von Jugendhilfe, Schule und Öffentlichem Gesundheitsdienst. Hier sind auch Psychotherapeuten gefordert.
Wie sehr eine nachhaltige Implementierung von erfolgreichen Präventionsprogrammen über ein Modellprojekt hinaus von einer sorgfältigen Anpassung des Programms an die jeweilige Lebenswelt abhängt, darauf wies Prof. Dr. Peter Paulus vom Institut für Psychologie der Universität Lüneburg am Beispiel Gesundheitsförderung in der Schule hin. Erfolgreiche Programme, wie das australische MIND MATTERS, das Paulus für Deutschland adaptierte, würden nur dann breit und langfristig eingesetzt, wenn sie Schulen helfen, deren Bildungs- und Erziehungsaufträge zu erreichen. Gesundheitsförderung müsse sich in den Dienst von Schule stellen, um dort akzeptiert und umgesetzt zu werden. Dabei sei der Settingansatz zur Förderung psychischer Gesundheit in Deutschland noch wenig verbreitet. Es gebe zwar eine Reihe von "evidence based practice" in Modellvorhaben, aber kaum "practice based evidence", so Paulus. Ständig neue Modellprojekte zu initiieren, helfe nicht weiter. Wichtiger sei es, gesundheitswissenschaftliche Kenntnisse in der Aus-, Fort- und Weiterbildung der Lehrkräfte und den Leitungsebenen von Schule und Schuladministration zu verankern.
Über den aktuellen Stand einer EU-Strategie für die Prävention psychischer Erkrankungen in Europa berichtete Jürgen Scheftlein, Generaldirektion Gesundheit & Verbraucherschutz der Europäischen Kommission. Scheftlein berichtete, dass das Thema "Psychische Gesundheit in Europa" an Bedeutung gewinne und verwies auf die WHO-Deklaration zur psychischen Gesundheit und den Aktionsplan von Helsinki aus dem Jahr 2005. Innerhalb der Europäischen Union sei dabei eine große Varianz bei der Bedeutung des Themas festzustellen. In Großbritannien beispielsweise genieße das Thema psychische Gesundheit neben Krebs und Herzerkrankungen oberste Priorität im Bereich der öffentlichen Gesundheit, in Spanien sei die psychische Gesundheit oberstes Ziel bei der Erarbeitung der Strategie des nationalen Gesundheitsdienstes. Mit dem Grünbuch "Die psychische Gesundheit der Bevölkerung verbessern" stellte die EU-Kommission Maßnahmen zur Förderung der psychischen Gesundheit und Prävention psychischer Erkrankungen zur Verbesserung der sozialen Teilhabe und zum Schutz der Rechte psychisch kranker Menschen sowie zur Verbesserung der Information und Forschung öffentlich zur Diskussion. Die starke Beteiligung an den Konsultationen zum Grünbuch werde dort als wichtiges Indiz für die Bedeutung des Themas gewertet. Man hoffe daher, dass es bis zum Sommer 2007 zur Veröffentlichung einer Kommissionsmitteilung zu einer Strategie zur psychischen Gesundheit komme.
Das Fazit übernahm Prof. Dr. Rainer Richter, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, zu dessen 60. Geburtstag das Symposium stattfand. Die Vorträge des Tages hätten gezeigt, dass die Prävention psychischer Erkrankungen insbesondere eine verbesserte Früherkennung brauche und mehr Frühförderung von Risikogruppen. Dabei sah er auch die eigene Profession in der Pflicht. Psychotherapeuten müssten selbst stärker initiativ werden, ihre Behandlungszimmer verlassen und in die Lebenswelten gehen, d. h. in die Familien, Krippen, Schulen, Betriebe und dabei insbesondere zu den sozial Benachteiligten. Prävention psychischer Krankheiten sei nicht die alleinige Aufgabe der Psychotherapeuten. Viele Professionen müssen dabei zusammenarbeiten. Gerade niedrigschwellige Beratungs- und Förderangebote, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten geschaffen wurden, müssten ausgebaut werden, statt gekürzt zu werden, wie dies derzeit in vielen Kommunen geschehe.
Veröffentlicht am 01. März 2007