GEK-Report
15.10.2008: Keine leitliniengerechte Behandlung von ADHS
Über die richtige Diagnostik und Therapie von Kindern, die unter mangelnder Konzentrationsfähigkeit und Hyperaktivität (ADHS) leiden, besteht theoretisch zwar Expertenkonsens, aber die Behandlungspraxis ist "stark verbesserungsbedürftig". Zu diesem Ergebnis kommt der neue ADHS-Report, den die Gmünder Ersatzkasse (GEK) gestern in Berlin vorstellte.
Obwohl eine multimodale Therapie bei ADHS empfehlenswert ist, erhalten danach vier von fünf Kindern ausschließlich Arzneimittel. "Wir werden unseren Kinder- und Jugendvertrag sowie unseren Hausarztvertrag weiterentwickeln, um eine leitliniengerechte Versorgung von Kindern mit ADHS zu gewährleisten", kündigte Dr. Rolf-Ulrich Schlenker, GEK-Vorstandsvorsitzender, an.
Die Verordnungen von Methylphenidat (z. B. Concerta, Medikinet und Ritalin) oder Atomoxetin (z. B. Strattera) nahmen auch im Jahr 2006 weiter zu. Insgesamt wurden 31 Prozent Dosierungen mehr verordnet als 2005. Die Anzahl der behandelten Versicherten liegt 17 Prozent höher. Seit 1990 ist die Menge der verordneten Tagesdosierungen um das 150fache gestiegen. Neu ist der "Irrweg", dass immer mehr ADHS-Kinder mit Neuroleptika wie Resperidon behandelt werden, auch in Kombination mit Ritalin. "Neuroleptika sind in der ADHS-Indikation nicht ausreichend untersucht", stellte Prof. Dr. Gerd Glaeske von der Universität Bremen fest. "Von einer Anwendung in diesem Bereich wird daher dringend abgeraten."
Obwohl in Leitlinien eine Kombination von Psychotherapie, Ergotherapie und Arzneimitteltherapie empfohlen wird, bekommen ca. 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit ADHS ausschließlich Medikamente. "ADHS ist eine Domäne der Arzneimitteltherapie", kritisierte die GEK. Daneben werden Kombinationen mit Ergotherapie (15 Prozent) und Logopädie (drei Prozent) angewendet. Kam Ergotherapie zum Einsatz, halbierte sich die eingesetzte Menge der Arzneimittel von 190 auf 86 Tagesdosierungen.
Die GEK präsentierte auch die Ergebnisse einer Befragung von über 5.000 Eltern, die sich zu einer medikamentösen Behandlung ihrer ADHS-kranken Kinder entschieden hatten. Vom Auftreten der ersten Auffälligkeiten bis zur Diagnosestellung vergingen meist mehrere Jahre. Den Eltern wurde von Erziehern und Lehrern häufig mangelnde Erziehungskompetenz vorgeworfen, die als ursächlich für die Problemlage angesehen wurde. "Fast alle Familien hatten einen langen Leidensweg hinter sich, bis die Diagnose ADHS gestellt wurde", berichtet Prof. Dr. Petra Kolip von der Universität Bremen. Dementsprechend empfanden die befragten Eltern die Diagnosestellung als eine Erleichterung. Rund 90 Prozent der Eltern gaben an, dass ihr Kind mit dem ersten Schuljahr massive Probleme aufgrund seiner Erkrankung bekam.
Um die Diagnose ADHS zu rechtfertigen, müssen die ersten Symptome der Erkrankung bereits vor dem 7. Lebensjahr aufgetreten sein. Das war nach Angabe der Eltern nur bei gut der Hälfte der Kinder der Fall. Medikamente zeigten aus Sicht der Eltern die beste Wirkung. Gleichzeitig stellte aber auch mehr als die Hälfte von ihnen dauerhafte Nebenwirkungen fest, z. B. Appetitlosigkeit, Schlafbeschwerden, erhöhten Blutdruck, Müdigkeit und Schwindel. Nur ein Fünftel der Kinder sah - wie empfohlen - den behandelnden Arzt anfangs wöchentlich, etwa die Hälfte war sogar nur einmal monatlich oder seltener beim Arzt. Eine ergänzende Psychotherapie wurde nur bei einem Viertel der Kinder durchgeführt. "Viele Eltern fühlen sich alleingelassen", fasste Petra Kolip die Ergebnisse der Elternbefragung zusammen. "Leider werden kontinuierliche Beratung, Verhaltenstherapie oder Elterntraining relativ selten eingesetzt. Wichtig wäre auch eine stärkere Lehrereinbindung."
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Veröffentlicht am 15. Oktober 2008