In der Krise erreichbar bleiben
Erfahrungsbericht 7: Benedikta Enste, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin
Benedikta Enste kann die Verunsicherung vieler Menschen in Coronazeiten gut verstehen: Ein Virus, das unsichtbar und hoch ansteckend ist. Das überall sein kann und allgegenwärtiges Thema in den Schlagzeilen ist. Das fast alles lahmlegt, auch das, was Menschen normalerweise tagtäglich brauchen: den persönlichen Kontakt und den Austausch mit anderen. Das Virus macht diesen Kontakt plötzlich lebensgefährlich. „Mich hat die Corona-Epidemie schon beschäftigt, als von ihr noch aus China berichtet wurde“, erzählt Psychotherapeutin Benedikta Enste. Das Thema kam dann täglich näher und die Unruhe untergrub immer mehr die gewohnte Sicherheit des Alltags, all das, worauf sich jeder verlässt, ohne ständig darüber nachzudenken. Diese Sicherheit höhlte das Virus aus, schließlich kann es lebensbedrohlich sein, für einen selbst, für den kranken Lebenspartner, für Eltern und Großeltern. „Das, was wir uns sonst nicht ständig bewusst machen, erreicht uns jetzt täglich in Gedanken und Gefühlen: unsere Verletzlichkeit, unsere Sterblichkeit“, schildert Benedikta Enste den Prozess, in dem sich das Coronavirus auch im alltäglichen Erleben immer mehr ausgebreitet hat. „Auch für mich ging es zunächst darum, zu diesem Unfassbaren eine Haltung zu finden. Zu akzeptieren, dass die Realität jetzt eine andere ist, und besonnen zu entscheiden, was ich verantwortungsvoll tun kann."
Benedikta Enste begann mit dem Praktischen. Sie ist als Kinder- und Jugendlichen-psychotherapeutin im nordrhein-westfälischen Engelskirchen in eigener Praxis niedergelassen. Beim Kontakt mit Eltern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen kann der Ansteckungsgefahr mit Hygieneregeln begegnet werden: Türklinken desinfizieren, statt Hände schütteln intensives Waschen der Hände, beim Gespräch ausreichend Abstand halten und regelmäßig das Behandlungszimmer lüften. Aber bei der Behandlung mit jüngeren Kindern Abstand halten? „Dann würde ich mich so ganz anders verhalten, als sie es von mir gewohnt sind. Es könnte schnell so wirken, als hätte ich jetzt Angst vor ihnen“, überlegte Benedikta Enste. „Bei älteren Kindern habe ich den Tisch im Kindertherapieraum zwischen uns erst einmal längs gestellt. So lässt sich die Coronakrise unmittelbar thematisieren und anschließend können wir uns besser auf das konzentrieren, was die Kinder beschäftigt.“ Gemeinsam mit den Eltern einiger jüngerer Patient*innen wurde eine Aussetzung der Termine für vier Wochen vereinbart.
Dass Kitas und Schulen schlossen, ist für viele Kinder und Jugendliche einschneidender, als sie zunächst dachten. Aus dem „Super! Schulfrei!“ wurde bei einigen schnell ein Stöhnen: „Wann geht die Schule endlich wieder los?“. Die Tagesstruktur fehlt, die ständige Nähe in der Familie ist ungewohnt und die Schulaufgaben überfordern häufig Kinder und Eltern. „Gerade den depressiven Kindern und Jugendlichen fehlt das Morgens-raus-aus-dem Haus, die Abwechslung des Unterrichts, die Pausen mit den anderen“, stellt die Psychotherapeutin fest. „Jetzt fällt fast alles weg. Treffen mit Freunden oder gemeinsamer Sport gehen nicht mehr.“ Manche Kinder äußern große Sorge, ihre Eltern oder Großeltern durch die Krankheit zu verlieren. Eine 11-Jährige, die seit ihrem vierten Lebensjahr bei Pflegeeltern lebt, denkt nun wieder öfter an den frühen Tod ihrer Mutter und hat Angst, dass wieder so etwas passieren könnte. „Jetzt werden wir alle sterben!“ Dem jungen Mädchen droht eine Retraumatisierung.
Benedikta Enste ist weit häufiger als sonst telefonisch für ihre Patient*innen erreichbar. Das Gespräch am Telefon ist für viele vertrauter als der Videochat, der als therapeutisches Gespräch doch selbst für die jüngere Internetgeneration noch fremd ist. „Die Bindung halten“ ist für die Psychotherapeutin das Wichtigste in der Krise. Besonders bei Kindern und Jugendlichen, die in Jugendhilfeeinrichtungen leben und jetzt keine Besuche von Familienangehörigen mehr bekommen, ist dies notwendig. Auch wenn die Kinder und Jugendlichen sich dort abschotten müssen, erleben sie sich doch nun auch als Gemeinschaft. Sie können raus auf das Gelände, das zum Heim gehört, und haben in ihren Wohngruppen weiter ihren stützenden Tagesablauf. Der Psychotherapeutin kann ich auch schreiben, entdeckt eine Jugendliche. „Konzentriert die richtigen Worte für das zu suchen, was man ausdrücken will, ist auch eine gute Möglichkeit, sich weiter auszutauschen und so in Kontakt zu bleiben“, weiß Benedikta Enste.
Veröffentlicht am 09. April 2020