Qualität der stationären Versorgung sichern
BPtK-Symposium am 26. Juni 2014
Psychisch kranke Menschen wissen häufig nicht, welche Versorgung ihnen ein Krankenhaus anbieten kann, also welche Therapie sie dort bekommen. Es gibt keine verlässlichen Informationen dazu, ob sie in einer Klinik vor allem Medikamente oder Psychotherapie oder beides bekommen und ob dies dem aktuellen Stand der Wissenschaft entspricht. Die Behandlungsqualität in psychiatrischen und psychosomatischen Krankenhäusern ist für die Patienten aktuell schwer zu beurteilen.
Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) hat mit Unterstützung des IGES Instituts 1.500 Psychotherapeuten, die in psychiatrischen und psychosomatischen Krankenhäusern arbeiten, dazu befragt, wer dort mit welcher Diagnose wie behandelt wird. Die BPtK stellte die Ergebnisse auf einem Symposium „Qualität der stationären Versorgung psychisch kranker Menschen sichern“ am 26. Juni 2014 in Berlin vor und diskutierte sie mit Experten, Bundestagsabgeordneten und rund 70 Teilnehmern.
Mit der Einführung eines pauschalierenden Entgeltsystems für Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP) war im vergangenen Jahr eine hitzige Diskussion um die Qualität der stationären Versorgung psychisch kranker Menschen entstanden. Der Gesetzgeber hatte sich deshalb in diesem Frühjahr entschieden, den Krankenhäusern zwei weitere Jahre Zeit zu geben, von sich aus und ohne gesetzlichen Zwang das neue Finanzierungssystem einzuführen. „Die gewonnene Zeit muss genutzt werden, um die Entwicklung des PEPP in die richtige Richtung zu lenken“, stellte BPtK-Präsident Prof. Dr. Rainer Richter fest. Die BPtK-Studie biete einen der wenigen Einblicke in die stationäre Versorgung psychisch kranker Menschen vor Einführung des PEPP und könne deshalb später für Vorher-Nachher-Vergleiche genutzt werden.
Defizite in der stationären Versorgung
Die größten Versorgungsdefizite sahen die befragten Psychotherapeuten bei der Behandlung von Patienten mit Schizophrenie und Borderline-Persönlichkeitsstörung, berichtete BPtK-Vizepräsident Dr. Dietrich Munz. Nach Leitlinienempfehlungen soll allen Patienten mit Schizophrenie neben einer medikamentösen Behandlung Psychotherapie – auch in der Akutphase – angeboten werden. Nach der BPtK-Befragung erhielten aber nur 57 Prozent der Patienten dieses Angebot. Dabei sei es möglich, dass diese Zahl noch zu hoch liegt, da nur Krankenhäuser bzw. Abteilungen, in denen Psychotherapeuten arbeiten, in die Stichprobe eingegangen seien. Ähnlich defizitär stelle sich die Versorgung von Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung dar. Zwar werde in fast allen Einrichtungen (85,4 Prozent) den Borderline-Patienten immer eine Psychotherapie angeboten, aber weder Behandlungszeit noch -intensität reichten im Durchschnitt aus, um evidenzbasierte störungsspezifische Behandlungsprogramme umzusetzen.
In Allgemeinkrankenhäusern Psychotherapie besonders selten
Die BPtK-Befragung zeige auch deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Krankenhausarten, erläuterte Munz. In psychiatrischen Abteilungen der Allgemeinkrankenhäuser beständen größere Defizite im psychotherapeutischen Angebot als in Universitätskliniken. Dies verwundere, denn aufgrund der für alle Krankenhäuser geltenden Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV) hätten alle Häuser die Möglichkeit, ihre Budgets entsprechend zu verhandeln und dann für vergleichbare Patientengruppen auch vergleichbar viel Personal einzusetzen.
Leitlinien nicht umgesetzt
Eine ausreichende psychotherapeutische Versorgung im Krankenhaus scheitere vor allem daran, dass Behandlungsempfehlungen der Leitlinien aus verschiedenen Gründen nicht umgesetzt würden, stellte Prof. Dr. Stefan Klingberg von der Universitätsklinik Tübingen fest. Wissenschaftlich sei erwiesen, dass auch in Akutphasen einer Schizophrenie Psychotherapie angeboten werden solle. Ob Krankenhäuser dies täten, sei von Behandlungsvorlieben, aber auch von finanziellen Rahmenbedingungen abhängig. So ist in der Psych-PV bei Schizophrenie keine Indikation für Psychotherapie vorgesehen, weshalb das notwendige Personal auch nicht eingeplant worden sei. Dies sei eine stille Rationierung, kritisierte Klingberg.
In der anschließenden Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, wieso im stationären Bereich eine mangelnde Leitlinienorientierung von psychisch kranken Menschen akzeptiert werde, wo doch bei körperlich kranken Menschen erhebliche Haftungsrisiken beständen.
Betont wurde auch, dass erst über die Inhalte der Versorgung gesprochen werden müsse, bevor ein adäquates Finanzierungssystem gestaltet werde. Außerdem greife für Patienten, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankung mit schweren Beeinträchtigungen leben müssten, eine Fokussierung auf den stationären Bereich zu kurz. Es sei notwendig, eine sektorenverbindende, ambulante, multiprofessionelle Versorgung in den Mittelpunkt der Überlegungen zu stellen. Die Diskussion um das PEPP, das ein ausschließlich auf den stationären Bereich zugeschnittenes Entgeltsystem ist, übersehe diese Versorgungsdefizite.
Sektorenverbindende Angebote für die Kinder- und Jugendpsychiatrie
Diesen Aspekt betonte auch Prof. Dr. Jörg M. Fegert vom Universitätsklinikum Ulm, der auf die besondere Situation der Kinder- und Jugendpsychiatrie aufmerksam machte. Gerade bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen sei man darauf angewiesen, mit den verschiedenen Institutionen außerhalb der Klinik zusammenzuarbeiten, von der Schule oder dem Kindergarten bis zur Jugendhilfe. Es seien dringend mehr Modellprojekte erforderlich, in denen Behandlungsformen, von denen man eigentlich schon seit Jahrzehnten wisse, dass sie wirksam seien – wie z. B. das Home Treatment – erprobt würden, um sie später flächendeckend umzusetzen.
Das neue PEPP-Entgeltsystem setzte hier noch nicht die richtigen Anreize über den stationären Bereich hinaus. Um die Kinder- und Jugendpsychiatrie – aber auch die Erwachsenenpsychiatrie – in Richtung einer sektorenverbindenden und stärker ambulant orientierten Versorgung weiterzuentwickeln, forderte Prof. Fegert eine eigene Expertenkommission unter Moderation des Bundesministeriums für Gesundheit.
Psychotherapie personalintensiv
Wie personalintensiv evidenzbasierte psychotherapeutische Komplexprogramme sind, stellte Dr. Isolde Daig von der Schön Klinik in Hamburg dar. Ihre Klinik biete Dialektisch-Behaviorale Therapie für Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung an. Die Patienten litten häufig unter Problemen in verschiedenen Lebensbereichen und befänden sich auch sozial in schwierigen Situationen. Deshalb sei die Behandlung durch ein multiprofessionelles Team, in dem neben Psychotherapeuten auch Sozialarbeiter verfügbar seien, notwendig und auch sehr wirksam. Man könne diese Intensivtherapie mit einem „Trainingscamp“ vergleichen, in dem die Patienten viele Kompetenzen erwerben, die ihnen bei der Lebens- und Alltagsbewältigung helfen. Meist gelinge es aber erst durch eine ambulante Weiterbehandlung, das Gelernte in den Alltag zu übertragen.
Es sei möglich, dieses Behandlungsprogramm bereits jetzt umzusetzen, allerdings sei die Personaldecke sehr knapp. „Schon wenn ein Teammitglied aufgrund von Urlaub oder Krankheit ausfällt, wird es schwierig, das komplette Programm anzubieten“, stellte Daig fest.
Störungsspezifische „Tracks“
Einen weiteren Ansatz zur Integration von Psychotherapie in der Akutpsychiatrie stellte Dr. Franciska Illes von der Klinik des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe in Bochum vor. In ihrem Haus arbeiteten multiprofessionelle Teams in sogenannten störungsbezogenen „Tracks“ zusammen.
So könnten Patienten zum Beispiel mit psychotischen oder affektiven Störungen eine Behandlungskontinuität über die verschiedenen Phasen ihres Aufenthaltes (stationär, teilstationär und in der psychiatrischen Institutsambulanz) geboten werden.
Psychotherapeutische Haltung des Teams entscheidend
Wie die psychotherapeutische Haltung eine stationäre Behandlung auch unter schwierigen Rahmenbedingungen prägen könne, schilderte Dr. Lieselotte Mahler vom St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin.
Das „Weddinger Modell“ ihrer Klinik setze konsequent psychotherapeutische Prinzipien in der multiprofessionellen Arbeit auf einer akutpsychiatrischen Station in einem Berliner Problembezirk um.
Dadurch sei es gelungen, die Behandlungszufriedenheit von Patienten und Mitarbeitern nachhaltig zu verbessern. So seien ressourcenorientiertes Arbeiten, der Einbezug der Patienten in ihre Behandlung und das Prinzip, niemals in Abwesenheit über den Patienten zu sprechen, zu wichtigen Grundsätzen der Arbeit geworden. Auch werde das Bezugssystem des Patienten außerhalb des Krankenhauses von Anfang an aktiv in die Behandlung mit einbezogen. Visiten unter Einbezug der Angehörigen beziehungsweise anderer relevanter Bezugspersonen seien mit Einverständnis des Patienten jederzeit möglich. Dies sei unter den aktuellen Rahmenbedingungen nur leistbar, weil alle Mitarbeiter hochmotoviert und engagiert seien, so Dr. Mahler.
Verbindliche Strukturanforderungen und Expertenkommission
BPtK-Präsident Richter forderte – wie auch Prof. Fegert – die Bildung einer Expertenkommission: „Für die Weiterentwicklung der Versorgung, insbesondere für psychisch kranke Menschen mit komplexem Leistungsbedarf, brauchen wir eine Expertenkommission, die die vorliegenden Erfahrungen aus Modellprojekten und -verträgen der Integrierten Versorgung auswertet und Eckpunkte für gesetzliche Rahmenbedingungen erarbeitet.“
Darüber hinaus müssten die Empfehlungen, die der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) für die Personalausstattung von psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken erarbeiten soll, einen verbindlichen Charakter bekommen. Die Qualität der stationären Versorgung psychisch kranker Menschen hänge entscheidend von der Anzahl und der Qualifikation des therapeutischen Personals ab. In dem neuen pauschalierenden Entgeltsystem dürften keine Gewinne mehr durch Personalabbau zu erzielen sein. Man dürfe nicht in die Zeiten vor der Psych-PV zurückfallen.
Podiumsdiskussion
Ute Bertram, Bundestagsabgeordnete der CDU/CSU, betonte, dass eine Reform des Finanzierungssystems der psychiatrischen und psychosomatischen Krankenhäuser unumgänglich sei. Diese Kliniken seien eine „Black Box, in die Geld hineinfließt“, es bestehe aber keine Transparenz zur Qualität der Versorgung. Das PEPP sei jedoch vor allem eine Reform des stationären Entgeltsystems und könne nicht alle Probleme in der Versorgung psychisch kranker Menschen lösen. Sie warnte davor, diese Finanzreform der Kliniken zu überfrachten. SPD-Bundestagsabgeordneter Dirk Heidenblut sah mit der Verlängerung der Optionsphase um zwei Jahre die Chance, aber auch die Verpflichtung, Weiterentwicklungen oder auch Alternativen zum PEPP zu diskutieren und vorzulegen, so es sie denn tatsächlich gebe. Dr. Meinolf Noeker, Krankenhausdezernent beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe und selbst Psychotherapeut, schloss sich dem an. Die Debatten um das PEPP der vergangenen Jahre hätten leider gezeigt, dass es keinen wirklichen Alternativvorschlag gebe. Man müsse sich deshalb darauf konzentrieren, das PEPP fachlich weiterzuentwickeln.
Die Vertreter der Opposition hielten die Konzentration auf ein Finanzierungssystem für den stationären Bereich für eine zu enge Herangehensweise. Man müsse sich erst überlegen, wie die Versorgung psychisch kranker Menschen in zehn Jahren aussehen solle, und dann darüber nachdenken, wie ein entsprechendes Entgeltsystem zu gestalten sei, betonte Maria Klein-Schmeink, Bundestagsabgeordnete von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Auch Birgit Wöllert, Bundesabgeordnete DIE LINKE, kritisierte, man habe „das Pferd falsch aufgezäumt“.
Prof. Richter erinnerte daran, dass die BPtK seit Beginn der Debatte für eine problemorientierte Weiterentwicklung des PEPP eingetreten sei. Dass es bei dem bisherigen Finanzierungssystem nicht bleiben könne, sei allen klar, aber dass es keine grundlegenden Alternativen zum PEPP gebe, genauso. Er hoffe sehr, dass man nun gemeinsam die gewonnene Zeit dafür nutzen könne, das Beste aus dem PEPP-System zu machen und sicherzustellen, dass es bis Ende 2016 die notwendigen Mindestanforderungen für die Personalausstattung der Kliniken gebe und diese dann für die Kliniken auch verbindlichen Charakter erhielten.
Sowohl die Vertreter der Regierungsfraktion Ute Bertram und Dirk Heidenblut als auch die Vertreter der Opposition Birgit Wöllert und Maria Klein-Schmeink stimmten grundsätzlich der Notwendigkeit verbindlicher Strukturempfehlungen zu. Ute Bertram deutete die Signale des G-BA bereits so, dass die Empfehlungen einen verbindlichen Charakter erhalten sollten, weshalb sie die „Bauchschmerzen“ aufgrund der auslaufenden Psych-PV nicht immer nachvollziehen könne. Dirk Heidenblut erinnerte daran, dass man bei der Psych-PV gesehen habe, wie selbst Verordnungen unterlaufen werden könnten, weshalb man sehen müsse, wie die Empfehlungen des G-BA wirklich verbindlich gemacht werden könnten.
Dr. Noeker stimmte aus fachlichen Gründen verbindlichen Strukturvorgaben zwar grundsätzlich zu, forderte aber, dass andererseits sichergestellt sein müsse, dass die Kliniken notwendige Investitionen tätigen können. Man müsse sehen, dass die Kliniken heute einen großen Teil der Investitionen aus den Erlösen finanzieren müssen. „Gerade der Investitionsstau spricht dafür, dass es verbindliche Personalstandards geben muss, damit kein ‚Verschiebebahnhof‘ entsteht“, entgegnete Birgit Wöllert von den Linken. Maria Klein-Schmeink ergänzte, dass Krankenhäuser bei verbindlichen Personalstandards nachweisen müssten, wofür sie die geltend gemachten Personalkosten eingesetzt hätten. Auch Dirk Heidenblut sprach sich für Mechanismen aus, die Quersubventionen verhindern. BPtK-Präsident Richter betonte, dass psychisch kranke Menschen ein Anrecht auf eine Versorgung nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft hätten. Es sei an der Zeit, die Versorgung in den psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken endlich leitliniengerecht zu gestalten. Fehlendes Geld für Investitionen dürfe nicht dazu führen, dass an der Personalausstattung der Kliniken gespart werde.
Der Einberufung einer Expertenkommission zur Weiterentwicklung der Versorgung psychisch Kranker hielten alle Abgeordneten für bedenkenswert. Man sei hier nicht beratungsresistent, versicherte Heidenblut. Unabhängig von PEPP müsste eine ambulante sektorenübergreifende Versorgung gefördert werden, forderte auch Ute Bertram. Die Verlängerung der Optionsphase müsse unter Beteiligung aller genutzt werden, die stationäre Versorgung psychisch kranker Menschen und das PEPP weiterzuentwickeln, hierin waren sich Experten, Regierungsfraktion und Opposition einig. Dass hierfür eine Expertenkommission unter Moderation des Bundesministeriums für Gesundheit notwendig sei, betonten Birgit Wöllert und Maria Klein-Schmeink.
Veröffentlicht am 15. Juli 2014