Reform überfällig
Vorsorgeuntersuchungen U1 bis U9
Eine grundlegende Überarbeitung der Vorsorgeuntersuchungen für Kinder und Jugendliche ist nach Ansicht der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) dringend erforderlich. Die bisherigen neun Untersuchungen (U1 bis U9) vernachlässigen fast vollständig den Bereich der Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten. Die BPtK fordert deshalb eine Ergänzung der Früherkennungsuntersuchungen um eine systematische Erfassung der psychosozialen und kognitiven Entwicklung eines Kindes.
Eltern haben in Deutschland einen rechtlichen Anspruch darauf, ihre Kinder bis zu ihrem fünften Lebensjahr neunmal daraufhin untersuchen zu lassen, ob ihre körperliche und geistige Entwicklung normal verläuft oder gefährdet ist. Krankheiten können dadurch frühzeitig erkannt und behandelt werden. Die Kosten für diese Vorsorgeuntersuchungen tragen die Krankenkassen.
Untersuchungen des Zentralinstituts für kassenärztliche Versorgung zeigen, dass Eltern diese Vorsorgeangebote grundsätzlich sehr gut annehmen. Die Inanspruchnahme bis zur U6 (zehnter bis zwölfter Lebensmonat) liegt bei über 90 Prozent. Deutliche Unterschiede lassen sich allerdings bei sozial schwachen Familien, Migranten und kinderreichen Familien erkennen. Diese Unterschiede nehmen mit steigendem Kindesalter weiter zu. Der auffällig starke Abfall der Inanspruchnahmerate von der U7 (21. bis 24. Lebensmonat) zur U8 (3,5 bis vier Jahre) hängt allerdings auch mit dem größeren zeitlichen Intervall von zwei Jahren zwischen den Untersuchungen zusammen.
Der gravierendste Mangel der bisherigen Früherkennungsuntersuchungen U1 bis U9 besteht jedoch darin, dass der Bereich der Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten unzulänglich erfasst werden. Die BPtK sieht hier erheblichen Überarbeitungsbedarf. Die im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen erfassten Auffälligkeiten entsprechen nicht annähernd den tatsächlich bestehenden emotionalen, sozialen und kognitiven Entwicklungsstörungen.
Allein die epidemiologischen Schätzungen für hyperkinetische Störungen gehen weit darüber hinaus, was Kinderärzte bei der U3 bis U9 (fünf Jahre) registrieren. Auch für die Störungen des Sozialverhaltens gehen Studien von weit höheren Krankheitsraten aus, als sie im Rahmen der U9 dokumentiert werden. Die differentialdiagnostische Abklärung dieser psychischen Störungen entspricht jedoch überwiegend nicht mehr der Qualifikation und dem Tätigkeitsschwerpunkt der Kinderärzte. Für eine Abklärung ist hier häufig die Überweisung an einen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten oder einen Facharzt für Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie und -psychotherapie notwendig.
Ergänzende Früherkennungsuntersuchungen, die einen Schwerpunkt auf die psychosoziale und kognitive Entwicklung legen, sollten zwischen der U7 und der U8 und nach der U9 eingefügt werden. Hierbei sollten, wie auch bei der U8 und der U9, zusätzliche Einschätzungen mittels Screeningbögen durch die Erzieherinnen und Erzieher bzw. Lehrerinnen und Lehrer vorgenommen werden. Kindergarten bzw. Schule stellen neben der familiären Umgebung die wichtigsten Lebensräume von Kindern dar, die geeignet sind, Einschätzungen zu den Entwicklungsverläufen von Kindern unter der freiwilligen Beteiligung der Eltern vorzunehmen. Darüber hinaus hält die BPtK die Einführung von strukturierten Interviewleitfäden für die untersuchenden Ärzte für sinnvoll, um eine bessere Standardisierung der Früherkennungsuntersuchungen und ein differenziertes Screening der kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung sicherzustellen.
Ferner ist eine zusätzliche Früherkennungsuntersuchung zwischen dem siebten bis achten Lebensjahr erforderlich. In diesem Alter stellen die ersten Schuljahre eine große Herausforderung in der emotionalen, kognitiven und sozialen Entwicklung des Kindes dar. Mögliche psychische Fehlentwicklungen und Fehlanpassungen in diesem Zeitfenster könnten durch eine zusätzliche Untersuchung (U10) rechtzeitig erkannt und behandelt werden. Eine zusätzliche U10 könnte zugleich die J1 (12 bis 14 Jahre) systematischer in die Reihe der Vorsorgenuntersuchungen einbetten und die Inanspruchnahme der späteren Früherkennungsuntersuchungen steigern.
Eine bessere Früherkennung allein hilft jedoch keinem Kind oder Jugendlichen, wenn es anschließend keine Unterstützung findet, z. B. weil es zu wenige Erziehungsberatungsstellen gibt oder weil Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten lange Wartelisten haben. Die Ernsthaftigkeit der aktuellen politischen Diskussion um Frühwarnsysteme oder eine verbesserte Früherkennung von vernachlässigten oder misshandelten Kindern und Jugendlichen lässt sich daran messen, ob gleichzeitig zugesichert wird, dass ausreichende Mittel zur Verfügung gestellt werden, um das bestehende Angebot, z. B. in der Jugendhilfe, aufrechtzuerhalten oder weiter auszubauen. Derzeit sparen fast alle Bundesländer bei der Jugendhilfe. In der letzten Legislaturperiode gab es sogar einen Gesetzentwurf, der Erziehungsberatungsstellen zuzahlungspflichtig machen wollte. Damit hätte man die Bereitschaft der Risikogruppen (sozial schwache Familien, Teenager-Mütter, Migranten und kinderreiche Familien), Hilfe zu suchen, zusätzlich gebremst. Auch im Bereich der Gesundheitsversorgung wird seit Jahren die Unterversorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher dokumentiert und diskutiert. Bisher gab es keine Änderungen in der Bedarfsplanung, die dazu geführt hätten, dass ausreichend Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten für die Behandlung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher zur Verfügung stehen.
Veröffentlicht am 05. Januar 2006