„Siehst du, meine Tür hier ist zu. Deine auch?“
Erfahrungsbericht 8: Rita Nowatius über Videobehandlung in einer ADHS-Schwerpunktpraxis
Die Psychotherapeutin traute ihren Ohren nicht. Der erste Junge, den sie fragte, wann er während der Coronakrise aufstehe, antwortete „11 Uhr“. Damit gehörte er schon eindeutig nicht mehr zu den Frühaufstehern. Der zweite antwortete dann aber schon: „13 Uhr“. Auch bei ihm war nächtelanges Online-Spielen der Grund. Und als der dritte tatsächlich sagte: „17 Uhr“ war die Diagnose „fehlender Tag-Nacht-Rhythmus“ schon fast eine Untertreibung. Dass sie die Nacht zum Tag machen, führte bei allen dreien dazu, dass ihnen tagsüber die Motivation für die Schulaufgaben fehlte. Dafür mangelten keinem die „sozialen Kontakte“. Im mitlaufenden Online-Chat besprachen die jugendlichen Nachtfalter während der Spiele die Welt im Allgemeinen und die Coronakrise im Besonderen.
Fachleute sprechen bei „extremem Aufschieben“ von „Prokrastination“. Rita Nowatius, Psychotherapeutin in Düsseldorf mit einer Schwerpunktpraxis für ADHS, übte mit den drei Jungen „Tagesstruktur“ einhalten und „sich selbst organisieren“, auf gut Deutsch: Aufstehen zu einer Zeit, in der sie sonst auch für die Schule aufstehen, und ran an die Schulaufgaben und immer schön im Rhythmus: 1,5 Stunden Aufgaben erledigen und dann Pause, dann wieder 1,5 Stunden und so weiter bis mittags und dann „Bewegung“, was aber nicht so einfach war, weil während der Coronakrise auch die Sportvereine dicht sind. Hier ist Kreativität gefragt hinsichtlich individueller Anregungen je nach Lebenskontext und Störungsbild jeder einzelnen Patient*in.
Nicht jede Lehrer*in ist mit dem Aufgabenpaket, das sie ihren Schüler*innen anstatt des Unterrichts zum Bearbeiten schickt, wirklich eine Hilfe. „Manchmal weiß die Deutschlehrer*in nicht, was die Mathelehrer*in an Aufgaben gestellt hat“, berichtet die Düsseldorfer Psychotherapeutin.
Zudem benutzt jede Schule unterschiedliche Plattformen, teilweise sogar drei verschiedene inklusive Messenger und Videokonferenzen. Da blickt ein Teil der Schüler*innen und Eltern gar nicht mehr durch. Gerade auch das Gliedern des Lernstoffs in einzelne Schritte überfordere viele Schüler*innen. „Die Eltern schaffen nicht immer die Unterstützung, die die Kinder benötigen“, schildert Rita Nowatius ihre Erfahrungen. „Andere Schüler*innen, die Hochbegabten, sind dagegen völlig unterfordert, bekommen aber keine Extra-Rätselaufgaben.“
In Coronazeiten ist die Psychotherapeutin besonders gefordert und muss neben der Therapie eines Aufmerksamkeitsdefizits und einer Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei ihren jungen Patient*innen auch noch eine mögliche Online-Spielsucht im Auge behalten. Wieder andere erfahren in ihren Familien jetzt verbale und körperliche Gewalt, weil die erzwungene Enge und finanzielle Existenzängste die Konflikte eskalieren lassen. „Meine Patient*innen benötigen gerade deutlich mehr Unterstützung als normal“, fasst sie zusammen. Rund ein Viertel ihrer Patient*innen ist durch die erzwungene Isolation in einer psychischen Krise.
Rita Nowatius war vom Coronavirus nicht überrascht. Auf Viren ist sie seit der Schweinegrippe im Winter 2009/2010 vorbereitet. „Schon damals gab die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein Hygieneempfehlungen heraus“, berichtet die Psychotherapeutin: Damals übte sie schon das Begrüßen mit dem Faustgruß, jetzt ohne Berührung, sowie das Händewaschen. Bei Corona ist die Sache allerdings etwas komplizierter, insbesondere weil ein großer Abstand von mindestens 1,5 Metern eingehalten werden soll. Hinzu kommt die Umstellung auf die Behandlung per Video-Chat. „Ein paar Tage kam ich nicht vor 22 Uhr aus der Praxis, weil ich jede Patient*in am Abend vor dem Termin angerufen und mit ihr die neue Technik durchgesprochen habe“, erzählt Rita Nowatius.
Bei den ersten Terminen schwenkte die Psychotherapeutin den Laptop durch ihr Behandlungszimmer und zeigte den Kindern: „Ich bin genau da, wo wir sonst zusammen sind. Wo bist du?“ Woraufhin ihre Patient*innen sie durch das Kinderzimmer oder Wohnzimmer, einmal sogar in das Bett im elterlichen Schlafzimmer führten, in dem sie sich befanden, weil kein anderer Raum zur Verfügung stand. „Ich bin alleine. Du auch?“, war die nächste Frage. Wenn dann die Eltern im Hintergrund auftauchten, dankte Rita Nowatius ihnen für die Hilfe beim Einrichten des Video-Chats, komplimentierte sie danach aber aus dem Zimmer heraus. Die Kinder sollten so frei reden können, wie sonst auch. „Siehst du, meine Tür hier ist zu. Deine auch?“
Bisher hat noch keine der in Behandlung befindlichen Patient*innen abgesagt, berichtet die Psychotherapeutin, „und ständig kommen Neuanfragen“. Rita Nowatius hat deutlich gemacht, dass sie weiter für jede*, die sie braucht, da ist. Denn darum geht es ja auch noch. Nicht nur die besonderen Belastungen der Coronakrise aufzufangen, sondern mit der Behandlung der psychischen Erkrankungen fortzufahren: Eltern und Kinder zu unterstützen, mit der ADHS-Erkrankung klarzukommen. Eine psychotisch erkrankte 65-Jährige während ihrer Schübe von Angst und Wahn zu stützen. Oder mit der Tochter, die bei allem zwanghaft die Bestätigung ihrer Mutter benötigt, zu üben, ohne diese Bestätigung auszukommen. Viele fragt sie auch: „Haben Sie noch genügend Medikamente?“ Und dabei geht es nicht nur um ausreichend Psychopharmaka, sondern auch um Medikamente für körperliche Erkrankungen. „Rezepte können Sie sich jetzt auch per Post schicken lassen“, ist für viele ältere Patient*innen ein wichtiger Hinweis. Viele von ihnen scheuen momentan den Weg zur Arztpraxis.
»Videogespräche sind deutlich anstrengender als das reale Behandeln in der Praxis“, fasst Rita Nowatius ihre Erfahrungen der ersten Coronawochen zusammen. Immer konzentriert auf den Bildschirm zu schauen. Nicht mehr alles sehen zu können, wie die Kinder reagieren, weil der Bildausschnitt begrenzt ist. Nicht mehr so einfach wie gewohnt Bewegung in das Gespräch einbauen zu können. „Das war auch für mich eine Herausforderung“, berichtet sie. Weshalb auch sie beherzigte, was sie ihren Patient*innen bei den Hausaufgaben empfohlen hatte: „Regelmäßig Pause machen.“
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Veröffentlicht am 15. April 2020