Stärkere Kooperation und Vernetzung
BPtK-Tagung "Psychotherapy in Europe - Disease Management Strategies for Depression"
Psychotherapeuten aus 20 europäischen Ländern trafen sich auf Einladung der BPtK am 23. Februar in Berlin. Auf der Tagung "Psychotherapy in Europe -Disease Management Strategies for Depression" diskutierten rund 60 Experten und Gesundheitspolitiker am Beispiel Depression den Status quo der Versorgung, Leitlinien und Good-Practice-Modelle der psychotherapeutischen Versorgung. Das Europäische Parlament hatte die Mitgliedstaaten 2009 sehr deutlich aufgefordert, das Bewusstsein für die große Bedeutung psychischer Gesundheit nachhaltig zu schärfen.
Nach dem Grünbuch der EU-Kommission zur psychischen Gesundheit sind jedes Jahr mehr als 27 Prozent der Europäer im Erwachsenenalter von psychischen Erkrankungen betroffen. Sie sind die Hauptursache für die 58.000 Selbsttötungen pro Jahr und fordern damit in Europa mehr Opfer als Straßenverkehrsunfälle. Die verbreitetesten psychischen Erkrankungen sind Angststörungen und Depression. Nach wie vor kommt es zur Stigmatisierung psychisch kranker Menschen. Psychisch kranke und geistig behinderte Menschen stoßen auf Ablehnung und Vorurteile, die ihr persönliches Leiden vergrößern und ihre soziale Ausgrenzung verschärfen. In wirtschaftlicher Hinsicht betragen die Kosten psychischer Erkrankungen schätzungsweise drei bis vier Prozent des europäischen Bruttoinlandsproduktes, hauptsächlich als Folge von Produktivitätsverlusten und der Kosten für das Sozial- und Bildungssystem sowie das Strafverfolgungs- und Justizsystem. In der Versorgung psychisch kranker Menschen bestehen erhebliche Diskrepanzen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Psychische Gesundheit ist ein grundlegendes Menschenrecht, daran erinnerte BPtK-Präsident Prof. Dr. Rainer Richter in seiner Begrüßung. Ziel der Fachtagung sei es, den Stellenwert der psychotherapeutischen Versorgung in den verschiedenen europäischen Gesundheitssystemen aufzuzeigen. Für die Psychotherapie sei es wichtig, von Erfahrungen anderer Staaten Europas zu lernen, erklärte der Europaparlamentarier Dr. Peter Liese in seinem schriftlichen Grußwort. Neben wirtschaftlichen Einsparungen, die sich durch eine verbesserte Behandlung und Diagnose psychischer Störungen ergeben, gehe es vor allem um die Gesundheit und das Wohlbefinden der Bürger. Dabei müssten die Unterschiede bei Lebenserwartung und Gesundheit innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten verringert werden.
EU-Strategieziele 2020
Auch die Europäische Kommission sehe einen dringenden Handlungsbedarf zur Verbesserung der psychischen Gesundheit der Bevölkerung, machte Johanna Schmidt aus der Vertretung der EU-Kommission in Deutschland deutlich. Nach dem im vergangenen Jahr veröffentlichten Eurobarometer "Psychische Gesundheit" suche innerhalb eines Jahres jeder siebte Europäer wegen eines psychischen Problems professionelle Hilfe und sieben Prozent der Europäer werden im gleichen Zeitraum Antidepressiva verordnet. Der 2008 unter Federführung der Kommission geschlossene Europäische Pakt für psychische Gesundheit und Wohlbefinden habe bereits erste Spuren hinterlassen. Die BPtK habe die Arbeit auf europäischer Ebene von Beginn an stark unterstützt. Damit die EU ihre Strategieziele 2020 für ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum erreichen könne, seien aber weitere Maßnahmen zur Förderung der psychischen Gesundheit erforderlich.
Depressionen sind zentrale Herausforderung des 21. Jahrhunderts
Prof. Dr. Hans-Ulrich Wittchen (Technische Universität Dresden) gab einen Überblick zur Epidemiologie psychischer Erkrankungen in Europa und die aktuelle Versorgungslage. Am Beispiel der depressiven Erkrankungen zeigte er die weite Kluft zwischen dem Behandlungsbedarf und der Versorgungsrealität. In der Europäischen Union litten jährlich sieben Prozent der Bevölkerung an einer Unipolaren Depression, aber nur ein Drittel bis die Hälfte der Betroffenen werde behandelt. Zwischen drei und acht Prozent würden pharmakologisch oder zumindest minimal psychotherapeutisch behandelt, oft jedoch erst mit viel zu großer zeitlicher Verzögerung. Psychotherapie erhielten nur zwei bis drei Prozent der Patienten. In der Versorgung von Depressionen sah Prof. Wittchen eine zentrale europäische Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Er forderte eine konzertierte Aktion, um allen Betroffenen möglichst rasch nach Ausbruch der Erkrankung effektive Psychotherapien verfügbar zu machen. Versorgungsleitlinien kämen hier eine wichtige Rolle zu, um gesundheitspolitisch die richtigen Weichen zu stellen. Dazu gehöre dann aber auch eine wachsende Zahl qualifizierter Behandler, wobei nicht mit einer wachsenden Zahl von Psychiatern gerechnet werden dürfe. Realistisch sei vielmehr, das Potenzial bei den psychologischen Therapien weiter auszuschöpfen.
In Kurzvorträgen wurden nationale Versorgungsstrukturen und innovative Versorgungskonzepte für Menschen mit Depressionen in Österreich, Finnland, Frankreich, Deutschland, Italien, den Niederlanden, Polen, Portugal und dem Vereinigten Königreich dargestellt. Aus allen europäischen Ländern wurde ein steigender Behandlungsbedarf - insbesondere für junge Menschen - berichtet. In keinem Land reicht das zur Verfügung stehende psychotherapeutische Behandlungsangebot aus, diesem Versorgungsbedarf auch nur annähernd gerecht zu werden. In Bezug auf die beteiligten Professionen, ihre Qualifikationen, Befugnisse und ihre Einbindung in das Gesundheitssystem sowie die angewandten Psychotherapieverfahren und -methoden entstand so ein europaweiter Überblick.
Schneller, breiter Zugang zur Psychotherapie
In mehreren europäischen Staaten werden Versorgungsmodelle gesucht, die einen schnellen Zugang zur Psychotherapie, unabhängig von Alter oder sozialer Schicht, sicherstellen. Dafür werden gestufte Versorgungskonzepte ("Stepped Care") eingesetzt, die Patienten je nach Schweregrad und Komplexität der Erkrankung unterschiedliche Behandlungsangebote unterbreiten. Prof. Dr. Glenys Parry (Universität Sheffield, Vereinigtes Königreich) präsentierte Evaluationsergebnisse des Programmes "Improving Access to Psychological Therapies (IAPT)", das inzwischen in ganz England angeboten wird. Mit dem Programm sei Psychotherapie schneller verfügbar geworden. Der Anteil der Patienten, die psychotherapeutisch behandelt werden, habe sich in Großbritannien inzwischen versechsfacht. Auch sei die Arbeitsunfähigkeit infolge psychischer Erkrankungen gesunken. Unzufriedenheit gebe es jedoch bei den Patienten wegen der als zu kurz bewerteten Behandlungsdauer.
Prof. Dr. Pim Cuijpers (Freie Universität Amsterdam, Niederlande) verglich die Effekte von niedrig- und hochintensiver Therapie im Rahmen von Stepped-Care-Modellen. Danach seien unter bestimmten Bedingungen niedrig-intensive Maßnahmen, wie die internetbasiert geführte und supervidierte Selbsthilfe, ähnlich wirksam wie Psychotherapie "Face-to-Face". Als Innovation in der Versorgung psychisch kranker Menschen beschrieb er internetbasierte Therapien, deren Erfolg jedoch von den individuellen Bedürfnissen und Ressourcen der Patienten abhängig seien. Niedrig-intensive Versorgungs- und Behandlungsmethoden könnten und sollten die Face-to-Face-Psychotherapie nicht vollständig ersetzen. Man müsse sie aber nutzen, weil es für eine traditionelle Psychotherapie angesichts des Versorgungsbedarfs nie genügend Behandlungsangebote durch qualifizierte Behandler geben könne.
Prof. Dr. Jaakko Seikkula (Universität Jyväskylä, Finnland) berichtete über Untersuchungen aus Finnland zu den Effekten eines bedürfnisangepassten Behandlungsmodells bei der Behandlung von Depressionen. Das ursprünglich für die Versorgung bei schizophrenen Erkrankungen entwickelte Need-adapted Treatment verspreche auch bei Depressionen Erfolge. Er forderte statt einer Einengung durch Behandlungsleitlinien mehr Flexibilität bei der Versorgung von Depressionen, um eine stärkere Passung zwischen Behandlungsmethode, Therapeutenmerkmalen und Bedürfnissen des Patienten zu ermöglichen, was sich z. B. in einem unterschiedlichen Ausmaß der Beteiligung von Familienangehörigen an der Behandlung niederschlagen könne.
Podiumsdiskussion
Die Beiträge der Wissenschaftler zu möglichen Innovationen in der psychotherapeutischen Versorgung und die Schilderungen zur tatsächlichen Versorgung in Europa warfen in der von Frau Andrea Mrazek, M.A., M.S. (Vorstand BPtK) moderierten Podiumsdiskussion drei zentrale Fragen auf.
Bei der ersten Frage ging es um das Wesen der Psychotherapie. Provokante Schlüsselmetapher war der Vergleich zwischen der Entwicklung der Psychotherapie und der industriellen Revolution. Auch in der Psychotherapie werde es eine Entwicklung von der individualisierten Heimarbeit hin zur standardisierten, replizierbaren Leistung mit geringen Qualitätsunterschieden geben. Aber können zehn Sitzungen manualisierter Kurzzeittherapie, die in einigen Gesundheitssystemen als Leistungskontingent vorgesehen sind, tatsächlich als Psychotherapie bezeichnet werden und vor allem: Sind sie wirksam? Auf der einen Seite wurde dazu die Position vertreten, dass Psychotherapie evidenzbasiertes Behandeln sei. Auch internetbasierte Interventionen seien daher Psychotherapie, wenn sie eine entsprechende Wirkung nachweisen könnten. Auf der anderen Seite stand die Position, dass Psychotherapie durch den Wirkmechanismus definiert sei und somit die psychotherapeutische Beziehung, die Kompetenz des Psychotherapeuten und die Passung zwischen Behandlungsangebot und den individuellen Bedürfnissen des Patienten Psychotherapie kennzeichne. Effekte zeigten sich hier insbesondere in längerfristigen Outcomes.
Die zweite zentrale Frage bezog sich auf den Beruf des Psychotherapeuten. Über welche Kompetenzen muss ein Psychotherapeut verfügen und was ist seine Aufgabe? In den Antworten fanden sich naturgemäß die Positionen zum Wesen der Psychotherapie wieder. Für die einen ist Psychotherapeut, wer umfassend dafür ausgebildet ist, evidenzbasierte psychotherapeutische Behandlungen durchzuführen. Das schließe - so ein Statement - nicht aus, dass psychotherapeutische Behandlungen von anderen Berufen wie Krankenpflegern durchgeführt würden. Für die Anderen kann nur Psychotherapeut sein, wer über die Kompetenzen verfügt, eine an den individuellen Patientenbedürfnissen orientierte Behandlung zu gewährleisten.
Als Drittes wurde schließlich danach gefragt, wie es gelingen kann, die Stärken intensiver Psychotherapie, insbesondere für Menschen mit schweren und komplexen gesundheitlichen Einschränkungen zu nutzen und gleichzeitig bei begrenzten personellen und finanziellen Ressourcen einen steigenden Behandlungsbedarf zu decken. Dazu wurde festgestellt, dass man in Bezug auf die psychotherapeutische Versorgung immer nur zwei der drei Kriterien "zeitnah", "günstig" und "gut" erreichen kann und nie alle drei zusammen. Die verfügbaren Ressourcen würden bestimmen, welche Strategien zur Versorgung psychisch kranker Menschen genutzt werden könnten oder müssten. Diese könnten ggf. auch niedrigschwellige Interventionen und Interventionen über neue Medien und/oder in weitgehend standardisierter Form rechtfertigen.
Die Suche nach den besten Strategien zur psychotherapeutischen Versorgung - da waren sich die Teilnehmer der Podiumsdiskussion einig - werde alle europäischen Gesundheitssysteme gleichermaßen beschäftigen, da es ihr Ziel sein müsse, eine qualitätsgesicherte Versorgung für psychisch kranke Menschen anzubieten und die bestehenden Versorgungslücken nicht länger zu akzeptieren. Um den psychotherapeutischen Sachverstand dabei angemessen zu berücksichtigen, sollten die in Europa psychotherapeutisch Tätigen künftig stärker zusammenarbeiten.
Europäisches Netzwerk
Der Wunsch nach einer stärkeren Kooperation stand im Mittelpunkt des Fazits von BPtK-Präsident Richter. Die Konferenz habe gezeigt, wie die Potenziale der Psychotherapie noch stärker für die Versorgung genutzt werden könnten. Gleichzeitig müsse man aber feststellen, dass bei den politischen Initiativen zur Verbesserung der psychischen Gesundheit in Europa die Psychotherapie noch nicht den Platz einnehme, den sie nach dem Stand der Wissenschaft haben sollte.
Prof. Richter regte die Einrichtung eines Netzwerkes für psychotherapeutische Versorgung in Europa an, um der Psychotherapie eine Stimme und eine Adresse zu geben. Ein solches Netzwerk solle die Erfahrungen und Expertise Aller nutzen können, die in ihren Gesundheitssystemen überwiegend oder ausschließlich psychotherapeutisch tätig seien. Der erste Schritt zur Einrichtung dieses Netzwerkes könnte - so sein Vorschlag - in einer Mailingliste bestehen, über die sich alle Interessierten über die Ausgestaltung des Netzwerkes, weitere Initiativen und hoffentlich auch eine Folgekonferenz austauschen könnten. Für die BPtK als Ausrichter dieser Fachtagung bot er an, die Initiative für die Einrichtung dieses Netzwerkes zu übernehmen. Ein Vorschlag, der von den Teilnehmern sehr begrüßt wurde.
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Veröffentlicht am 24. März 2011