Störungen des Sozialverhaltens frühzeitig behandeln
BPtK-Symposium „Gute Praxis psychotherapeutische Versorgung“
Mit dem Thema „Störungen des Sozialverhaltens“ widmete sich die BPtK-Veranstaltungsreihe „Gute Praxis psychotherapeutische Versorgung“ am 5. März 2013 erstmals der psychotherapeutischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen. BPtK-Vorstandsmitglied Peter Lehndorfer machte bei seiner Begrüßung darauf aufmerksam, dass mit Störungen des Sozialverhaltens eine psychische Erkrankung aufgegriffen werde, die hohe Anforderungen an die Versorgung stelle. Störungen des Sozialverhaltens verursachten unmittelbar großes Leid bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen und in ihrem sozialen Umfeld. Aber auch die langfristigen Folgen von aggressivem Verhalten seien gravierend, beeinträchtigten die schulische und berufliche Entwicklung nachhaltig und könnten damit Lebensperspektiven dauerhaft zerstören. Dabei gehören die Störungen des Sozialverhaltens zu den häufigsten psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Rund sechs bis 16 Prozent der Jungen und zwei bis neun Prozent der Mädchen leiden unter dieser Erkrankung.
Ausschnitte aus einer Fernsehdokumentation illustrierten die Verzweiflung von Kindern und Eltern. Sie verdeutlichten, welchen zweifelhaften Behandlungsmethoden diese sich in ihrer Not aussetzen. Für Lehndorfer unterstrichen die Filmausschnitte die Notwendigkeit, evidenzbasierte Behandlungen in der Versorgung zu verankern. Mit der Veranstaltung solle – so Lehndorfer – aufgezeigt werden, welchen Stellenwert Psychotherapie bei der Behandlung von Störungen des Sozialverhaltens heute bereits einnimmt und worauf bei der bevorstehenden Entwicklung einer S3-Leitlinie zu achten sein werde.
Behandlung beginnt oft zu spät
Prof. Dr. Nina Heinrichs (Technische Universität Braunschweig) beschrieb das sehr heterogene Krankheitsbild von Störungen des Sozialverhalten, die häufig gemeinsam mit hyperkinetischen Störungen festgestellt würden. Für die Prävention und Therapie seien international je nach Altersgruppe (Kinder oder Jugendliche) und für unterschiedliche Versorgungssettings verschiedene evidenzbasierte Empfehlungen verfügbar. Zentrale Ansatzpunkte seien die Psychotherapie mit dem Kind selbst, z. B. zur Verbesserung der Kommunikationsfähigkeiten oder des Ärger-Managements, und die Arbeit mit den Bezugspersonen, um es ihnen beispielsweise zu ermöglichen, wieder eine positive Beziehung zum Kind aufzubauen. Empfehlungen zur Elternarbeit seien ein wesentlicher Bestandteil evidenzbasierter Leitlinien.
Bei milderen Ausprägungen der Störungen des Sozialverhaltens könnten mit Elterntrainings gute Effekte erzielt werden. Aktuell werde allerdings die Wirksamkeit von Trainings mit Elterngruppen infrage gestellt. Positive Effekte seien zudem für die multisystemische Therapie nachgewiesen, die insbesondere auch bei schwer ausgeprägten Störungen des Sozialverhaltens indiziert sei. Sie sei zwar eine sehr personal- und kostenintensive Maßnahme, aber Kosten-Nutzen-Analysen belegten für diese Therapie deutlich niedrigere gesamtgesellschaftliche Fallkosten als alternative Maßnahmen wie z. B. eine externe Unterbringung. Problematisch sei, dass international empfohlene evidenzbasierte Maßnahmen in Deutschland kaum mit den Vorgaben der Psychotherapie-Richtlinie zusammenpassten. Wenn Störungen deshalb bis zum Jugendalter unbehandelt blieben, könnten sie von dem von den Richtlinien gesetzten Rahmen kaum mehr effektiv behandelt werden.
Heinrichs sah zwei vielversprechende Forschungsansätze für die Entwicklung neuer Behandlungsansätze: Kinder mit hoher Selbstkontrolle seien deutlich resistenter gegenüber Verhaltensstörungen, abgestumpft-emotionslose (engl.: callous unemotional) Kinder reagierten dagegen kaum auf die verschiedensten therapeutischen Anstrengungen.
Eltern-Kind-Behandlung in der Klinik
Peter Graaf, Psychotherapeut in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Eltern-Kind-Klinik des Evangelischen Krankenhauses Alsterdorf gGmbH, gab anschauliche Einblicke in die Praxis der stationären Behandlung von Kindern mit Störungen des Sozialverhaltens. Vorteile dieses Versorgungssettings seien neben der Entlastung von Alltagsproblemen die Wegnahme des Drucks durch Schule und Gleichaltrige, die Unterbrechung familiärer Teufelskreise sowie die Möglichkeit, im Gruppensetting mit interdisziplinären Teams zu arbeiten. Diese Vorteile könnten Nachteile wie mögliche Trennungsreaktionen, Stigmatisierung oder verschärfte Schuldzuweisungen überwiegen.
Zentrale Elemente seines stationären Behandlungsprogramms für Kinder seien die Einübung neuer Verhaltensmuster durch beständige Aufsicht und Coaching, die Unterbrechung von Verstärkungskreisläufen, die Entwicklung von Freundschaften durch täglichen Kontakt, das Ermöglichen von Chancen auf Bedürfnisbefriedigung und Wertschätzung, Zugehörigkeit, Bindung und Autonomie, die Nachsozialisation in der Beziehung zu Bezugspersonen, die Ressourcenaktivierung durch Kreativtherapien und gezielte Gruppenaktivitäten und Rituale. Zentral sei dabei die Anwendung der Schematherapie bei Kindern und Jugendlichen.
Zur Elternarbeit in seinem Krankenhaus gehöre z. B. die Reflexion selbsterlebter Erziehungspraktiken, problematischer Einstellungen zu Gewalt und Dominanz oder zum eigenen Umgang mit Wut und Konflikten. Mit Blick auf den Familienalltag gehe es beispielsweise um die Korrekturen ungünstiger Rollen- und Aufgabenverteilungen zwischen den Eltern, Umstrukturierungen des Tages- und Wochenablaufs oder die Verbesserung der Kommunikation innerhalb der Familie. Besonders wichtig sei, Eltern im aktuellen Konflikt beim Aushalten von Widerstand beizustehen, ihre eigenen Bedürfnisse und Verletzungen zu würdigen, es ihnen zu ermöglichen, eigene emotionale Blockaden und Widerstände zu erkennen und zu bearbeiten und für Extremsituationen (Umgang mit Gewalt) Handlungsmodelle zu erarbeiten. Auch Graaf unterstrich die Notwendigkeit, frühzeitig bei Kindern und Familien zu intervenieren und rechtzeitig anzusetzen, um Teufelskreise aufzubrechen.
Evidenzbasierte Behandlung im ambulanten Setting
Dr. Anja Görtz-Dorten, Leiterin der Schwerpunktambulanz für Störungen des Sozialverhaltens an der Uniklinik Köln, berichtete über die Möglichkeiten und Grenzen der ambulanten Behandlung. Dabei stellte sie die Bedeutung einer gründlichen Differenzialdiagnostik heraus, um die richtige Indikation für eine multimodale ambulante Behandlung zu stellen. Ergebnis könne dabei auch sein, zunächst andere Maßnahmen, wie z. B. Jugendhilfemaßnahmen, anzuraten.
Zur Behandlung der Kinder stünden verschiedene evidenzbasierte Behandlungsprogramme zur Verfügung, die meistens in Gruppen durchgeführt werden. Die Eltern würden in der Regel ergänzend einbezogen. Gruppenprogramme böten den Vorteil, dass die Kinder soziales Verhalten unmittelbar während der Therapiestunde in der Gleichaltrigengruppe einüben könnten. Zentrale Ziele seien, Konfliktsituationen genauer wahrzunehmen, eigene Gedanken und Gefühle zu identifizieren, die Intentionen und Erwartungen anderer Kinder genauer zu erkennen, eigene Handlungen besser zu planen sowie die Konsequenzen der eigenen Handlungen besser abschätzen zu lernen.
In der Praxis ergebe sich allerdings oft das Problem, genügend Teilnehmer für eine Therapiegruppe zu finden und diese über einen längeren Zeitraum binden zu können. Auch seien für die Leitung der Gruppen oft zwei Therapeuten erforderlich, was im Alltag kaum realisierbar und finanzierbar sei. Görtz-Dorten kritisierte, dass viele junge Kinder mit aggressivem Verhalten keine adäquate, evidenzbasierte psychotherapeutische Behandlung erhielten.
Veröffentlicht am 25. März 2013